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    Drecksau
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Drecksau
    Von Björn Becher

    Die Romane von Irvine Welsh sind keine einfache Kost. Der schottische Autor schreibt häufig so wie die Leute in seiner Heimat auf der Straße sprechen, im Dialekt und ohne Rücksicht auf korrekte Grammatik und Rechtschreibung. Zu diesen sprachlichen Eigenheiten kommt noch ein oft geradezu fiebriger und experimenteller Erzählstil – es verwundert nicht, wenn sich Filmemacher mit der Adaption dieser eigenwilligen Werke meist schwertun. Einzig Danny Boyle war dabei bisher erfolgreich, durch dessen Kult-Verfilmung von „Trainspotting“ wurde 1996 gleichzeitig auch Welsh international bekannt. Dessen neue Popularität wollte Paul McGuigan gleich im Anschluss für sich nutzen, doch seine Kinoversion der Kurzgeschichtensammlung „The Acid House“ schlug nicht so recht ein. Danach wurde vorerst keine Welsh-Adaption mehr realisiert, auch Boyles lange geplante Leinwandbearbeitung der „Trainspotting“-Fortsetzung „Porno“ nicht. Erst 2011 legte Videoclip-Regisseur Rob Heydon mit „Ecstasy“ nach, doch er scheiterte weitgehend bei der Übertragung von Welshs Welten ins Filmformat. Besser macht es nun Jon S. Baird („Cass - Legend Of A Hooligan“): Obwohl er sich mit „Drecksau“ das vielleicht allerschwierigste Buch von Welsh vorgeknöpft hat, gelingt es dem Regisseur mit der Unterstützung seines herausragenden Hauptdarsteller James McAvoy, die surreale Atmosphäre der Vorlage einzufangen und zu einem höchst verstörenden und zugleich äußerst sehenswerten Thriller-Drama zu verarbeiten.

    Der Edinburgher Polizist Bruce Robertson (James McAvoy) ist alles andere als ein Muster-Cop. Er nimmt Drogen, zwingt minderjährige weibliche Verdächtige zum Oralsex, hat eine Affäre mit der Frau eines Kollegen und auch sonst noch ein paar dunkle Geheimnisse. Um seine Chance auf eine baldige Beförderung zu erhöhen, lässt der ehrgeizige Robertson keine Gelegenheit aus, seine Kontrahenten gegeneinander auszuspielen, anzuschwärzen und zu diskreditieren. Als es in der Vorweihnachtszeit zu einem möglicherweise rassistisch motivierten Mord an einem asiatischen Austauschstudenten kommt, passt Robertson der Druck der Öffentlichkeit, die nach schleunigster Aufklärung verlangt, überhaupt nicht in den Kram, denn er hat gerade einen Wochenendausflug geplant: In Hamburg will er seinen Freimaurer-Logenbruder Bladesey (Eddie Marsan) übers Ohr hauen, dessen Frau Bunty (Shirley Henderson) er zudem mit obszönen Anrufen terrorisiert. Robertson reibt sich zwischen seinen perfiden Spielchen und den Mordermittlungen zunehmend auf und schon bald droht ihm sein gesamtes Leben zu entgleiten…

    „Drecksau“ ist schon ein besonderes Buch, Irvine Welsh erzählt nicht nur aus der Perspektive der Hauptfigur Robertson, sondern auch aus der eines Bandwurms, der sich in dem Cop eingenistet hat. Mit fortschreitender Handlung nimmt der Wurm immer mehr Platz ein, seine Worte fressen sich im Roman förmlich durch den Robertson zugeschriebenen Text, was auch am Schriftbild abzulesen ist: Wie will man das adaptieren? Gar nicht! Regisseur Jon S. Baird, der auch das Drehbuch schrieb, entfernt einige Elemente der Buchvorlage radikal – darunter der Bandwurm. So kommt dann auch die traumatische Vergangenheit des Protagonisten im Film nur am Rande vor, womit Baird zugleich die hölzerne Psychoanalyse der Vorlage weitestgehend rausgeschmissen hat. Stattdessen weist der Regisseur Robertsons Ehefrau Carole (Shauna Macdonald) eine zentrale Rolle zu, bereits die erste Szene gehört ihr und auch danach spricht sie immer wieder nur in Dessous gekleidet in die Kamera, erzählt, wie sie ihren Mann unterstützt und wie sie ihn belohnen wird, wenn er seine Beförderung bekommt. Doch gemeinsame Szenen mit Bruce gibt es nicht, der sitzt vielmehr oft ganz allein in einer vermüllten Wohnung. Gibt es die Ehefrau womöglich gar nicht (mehr)? Baird macht die Doppelbödigkeit zwischen Traum und Albtraum, zwischen Realität und Einbildung zum Dauerzustand.

    Regisseur Baird jongliert mit Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen, während seine Hauptfigur auf dem schmalen Grat zwischen Gut und Böse balanciert und immer wieder abrutscht. Robertson ist zweifellos ein Schwein und der Titel Drecksau tut ihm kein Unrecht, aber der rücksichtslose Intrigant und Erpresser, der zuweilen auch noch viel Schlimmeres tut, hat auch eine gute und hilfsbereite Seite. Die Figur ist trotz der hippen Bilder, in die Baird ihre Exzesse kleidet, ganz weit entfernt von der absurden Coolness eines kultigen Kollegen wie Brendan Gleesons Sergeant Gerry Boyle aus „The Guard – Eine Ire sieht schwarz“. Während dessen Entgleisungen immer einen humorvollen Unterton hatten, ist McAvoys Robertson trotz gewisser Gemeinsamkeiten eine komplexbeladene und fast schon tragische Figur. Wenn er die Kollegen auf der Polizeistation bei der feucht-fröhlichen Weihnachtsfeier dazu überredet, die Schwänze zu fotokopieren, macht er selbst rege von der Vergrößerungsfunktion des Kopiergeräts Gebrauch, aber beim Sex mit der durch die Aussicht auf einen Monsterpenis sichtlich beeindruckten Sekretärin, kriegt er dann mal wieder keinen hoch. Die jämmerliche Seite der coolen Sau kehrt Regisseur Baird auch in einigen surrealen und überdeutlichen Therapieszenen hervor, in denen Jim Broadbent („Cloud Atlas“) völlig überdreht einen Analytiker spielt, der seinen „Patienten“ verspottet.

    Dass „Drecksau“ als Film so gut funktioniert, liegt indes nicht nur am erzählerischen Geschick von Regisseur und Drehbuchautor Jon S. Baird, sondern zu einem erheblichen Teil auch am brillanten Hauptdarsteller James McAvoy („X-Men: Erste Entscheidung“). Als seine Besetzung bekannt wurde, waren viele Fans der Vorlage skeptisch, die den schottischen Schauspieler für zu gut aussehend hielten. Diese Kritiker straft McAvoy Lügen. Mit verfilztem Bart, breitem Akzent und beängstigend überzeugender Arschloch-Attitüde macht er Robertson zu einem alles andere als sympathischen Loser. Aber selbst wenn er etwa den zu ihm aufschauenden Kollegen Ray (Jamie Bell) in einer schmerzhaften Szene rücksichtslos zum Gespött macht, verliert dieser problematische Protagonist dank McAvoy niemals vollständig seine Menschlichkeit. In den ruhigsten und zugleich eindrucksvollsten Momenten des Films werden ausgerechnet zwei Frauen zum Rettungsanker für den Frauenfeind: Seine Kollegin Amanda (Imogen Poots) durchschaut ihn als Einzige, sie stellt ihn zur Rede und appelliert an das Gute in ihm. Und in der Gegenwart der alleinerziehenden Mutter Mary (Joanne Froggatt) ist er dann tatsächlich ein anderer Mensch: Die zarte Annäherung zwischen ihnen fällt fast schon romantisch aus. Diese Emotionalität bildet einen wirkungsvollen Kontrast zu vielen stylisheren Sequenzen, aus denen wiederum der rasant zu Nenas „99 Luftballons“ geschnittene, rauschhafte Party-Trip durchs Hamburger Rotlichtviertel hervorsticht.

    Fazit: Jon S. Baird gelingt es mit der Hilfe seines brillanten Hauptdarstellers James McAvoy die besondere Stimmung und Atmosphäre der Romanvorlage von Irvine Welsh auf die Leinwand zu übertragen. „Drecksau“ ist ein starker und absolut sehenswerter dramatischer Thriller – und die beste Welsh-Verfilmung seit „Trainspotting“!

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