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    Gnade
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Gnade
    Von Christoph Petersen

    Im vergangenen Jahr verhandelte Regisseur Terrence Malick in seiner assoziativen Kinosymphonie „The Tree of Life" den ewigen Widerstreit zwischen der Unbarmherzigkeit der Natur und der Gnade des Menschen. In dieselbe Kerbe schlägt nun auch der deutsche Filmemacher Matthias Glasner („Der freie Wille", „This is love"), dessen neuer, im Wettbewerb der Berlinale 2012 uraufgeführter Film seine Thematik bereits als Titel trägt. „Gnade" ist ein eindringlich-intensives Drama, in dem die schuldbeladenen Protagonisten ausgerechnet an einem Ort nach Vergebung suchen, dessen harsche Natur eigentlich keine Fehltritte verzeiht: Im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt, herrschen nicht nur eisige Temperaturen, es geht zur Polarnacht von Ende November bis Ende Januar auch volle zwei Monate lang die Sonne nicht auf. Ein faszinierender Schauplatz für einen bildgewaltigen Film, der sein Publikum vor allem durch seinen unerwarteten Ausgang spalten wird.

    Der deutsche Ingenieur Niels (Jürgen Vogel) zieht mit seiner Frau Maria (Birgit Minichmayr) und seinem Sohn Markus (Henry Stange) nach Hammerfest, um dort eine leitende Stelle in einer Gasverflüssigungsanlage anzutreten. Das Paar hofft in der eisigen Ferne auf eine neue Chance für seine festgefahrene Ehe, doch schon nach kurzer Zeit fängt Niels eine Affäre mit einer Kollegin an, während sich seine Frau in ihren Job als Krankenschwester in einem Hospiz flüchtet. Eines Nachts (wobei Tageszeiten während der Polarnacht keine große Rolle spielen) fährt Maria auf dem Heimweg nach einer Doppelschicht, abgelenkt von einem wunderschönen, grünleuchtenden Nordlicht, mit ihrem Auto irgendetwas oder irgendjemanden an. Unter Schock und in dem Glauben, es sei bestimmt nur ein Hund gewesen, setzt sie ihren Weg fort. Auch Niels, der sich wenig später noch einmal an der Unfallstelle umschaut, um sicherzugehen, dass es kein Mensch war, kann nichts entdecken. Doch dann lässt die Tageszeitung am nächsten Morgen die schlimmsten Befürchtungen Gewissheit werden...

    Es gibt in „Gnade" Szenen, die man in anderen Schuld-und-Sühne-Dramen schon genauso oder sehr ähnlich gesehen hat, so etwa jene, in der Niels das beschädigte Auto neu lackiert und Marie dies mit den Worten kommentiert, nun sei ja gar nichts mehr von dem Unfall zu sehen. Trotzdem ist „Gnade" ein ganz und gar eigenständiger und individueller Film, was vor allem daran liegt, dass Matthias Glasner ein mutiger Regisseur ist, der auch nicht davor zurückschreckt, seine Protagonisten als im Grunde unverzeihlich unsympathisch zu porträtieren. Natürlich leistet Maria hervorragende Arbeit im Hospiz und opfert ihr eigenes Familienglück den sterbenden Menschen im Krankenhaus. Aber dann besteht sie plötzlich darauf, dem Lieferanten des Heus für die Schafe weniger zu bezahlen, schließlich hätte auf einem Flyer ja ein niedrigerer Preis gestanden. Was im ersten Moment gar nicht so schlimm klingt, erscheint in einem vollkommen anderen Licht, wenn man weiß, dass Maria nur wenige Tage vorher die Tochter des Mannes totgefahren hat. Am Ende ist es nicht nur für die Eltern des Mädchens eine unzumutbare und geradezu unmögliche Entscheidung, ob sie die titelgebende Gnade walten lassen wollen, auch der Zuschauer muss ganz allein mit sich selbst ausmachen, ob er Niels und Maria vergeben kann oder nicht.

    Ein Filmemacher, der seinem Publikum eine solche Entscheidung zumutet, muss Mumm in den Knochen haben. Den zeigt hier nicht nur Matthias Glasner, auch seine beiden Hauptdarsteller schmeißen sich voll in ihre Rollen. Jürgen Vogel („Die Welle", „Hotel Lux") nahm bereits in seiner ersten Glasner-Rolle als Vergewaltiger in „Der freie Wille" keine Rücksicht auf sein Filmstar-Image und fängt damit zum Glück auch in „Gnade" nicht an. Man versteht Niels vielleicht, aber man mag ihn nicht, wenn er nach der „Kleinen in Kiel" auch in der neuen norwegischen Heimat gleich wieder eine seiner Kolleginnen flachlegt. Und Maria wäre der Unfall und auch die anschließende Schockreaktion viel leichter zu verzeihen, wäre da nicht ihr wehleidiges Selbstmitleid. Diese Komplexität lässt die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen richtig und falsch, zwischen Moralität und Verdorbenheit immer weiter verschwimmen. Trotzdem gibt Glasner auf die Frage, ob man nun Gnade walten lassen sollte oder nicht, am Ende doch eine unerwartet klare Antwort, was zumindest bei der Berlinale-Pressevorführung einen Teil des Publikums verstörte, weshalb neben dem verdienten Applaus auch einige Buhrufe ertönten.

    Fazit: Intensives Drama vor alptraumhaft schöner Eiskulisse.

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