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    Dicke Mädchen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Dicke Mädchen
    Von Werner Busch

    „Geld macht keine Filme", hat Regie-Legende Werner Herzog einst gesagt und sein Dschungelabenteuer „Aguirre, der Zorn Gottes" für weniger als 400.000 Dollar realisiert, wovon ein Großteil allein für die Gage von Hauptdarsteller Klaus Kinski draufging. Axel Ranisch geht mit seinem Langfilmdebüt „Dicke Mädchen" nun noch deutlich weiter als der sparsame Kino-Weltreisende. Ganz nach dem Motto „Wer wirklich eine Geschichte zu erzählen hat, benötigt keine Filmförderung, sondern kommt mit dem aus, was er hat" gelang es ihm angeblich „Dicke Mädchen" mit gerade einmal 517 Euro und ein paar Cent herzustellen. Das schmale Budget ist dem Liebhaberprojekt deutlich anzusehen, dennoch ist Ranisch mit seiner schwulen Coming-of-Age-Geschichte eine der schönsten Überraschungen des deutschen Kinojahres 2012 geglückt.

    Der schwergewichtige Mittvierziger Sven (Heiko Pinkowski) lebt noch bei Mutti (Ruth Bickelhaupt). Die beiden teilen sich nicht nur die Wohnung, sondern auch das Bett. Die alte Dame benötigt wegen ihrer Demenzerkrankung intensive Betreuung, so dass tagsüber, wenn Sven in der Bank arbeitet, Pfleger Daniel (Peter Trabner) nach dem Rechten sieht. Als Mama Edeltraut eines Nachmittags verschwindet, machen sich die beiden Männer auf die Suche nach ihr und finden dabei nicht nur die alte Dame, sondern entdecken auch Gefühle füreinander.

    Viele Monate tourte Axel Ranisch mit seiner Entourage über nationale und internationale Festivals, wo er zuverlässig für Begeisterung sorgte. Beim Slamdance-Fest im amerikanischen Utah gewann er den Jury-Preis für „Bold Originality" und ebenjene damit gewürdigte Kombination aus Wagnis und Originalität erweist sich tatsächlich als hervorstechendste Qualität von „Dicke Mädchen". Der Film ist dabei weit mehr als „nur" eine Coming-of-Age-Geschichte der verspäteten Art. Axel Ranisch setzt stark auf Improvisation und entwickelt gemeinsam mit seinen starken, ausgezeichnet harmonierenden Darstellern originelle, mitreißende Szenen voller Situationskomik. Zugleich begnügt sich Ranisch nicht mit einer Abfolge liebevoll-skurriler Momentaufnahmen, sondern lässt im weiteren Verlauf des Films äußere Ereignisse in Svens abgeschlossene Welt einbrechen und erzählt eine zunehmend ernsthafte Geschichte über das Erwachsenwerden, die insbesondere gegen Ende berührt.

    Die Improvisation führt zu erstaunlichen Ergebnissen, etwa wenn Sven in einem vermeintlich unbeobachteten Moment mit einem Kopfhörer-Stecker im Hintern einen ekstatischen Nackttanz zu Ravels „Bolero" aufführt, während Mutter ihn heimlich durchs Schlüsselloch beobachtet und sich amüsiert. Oder wenn er mit Daniel an einem Berliner Strand merkwürdige Indianerspiele ausübt, halbnackt und mit Schlamm und Spucke. Diese Szenen sind gleichzeitig fremdartig-obskur und offenherzig-komisch: ein Wechselbad irritierender Gefühle, das dem Innenleben der Figuren entspricht. Aber nicht jede Improvisation ist in gleicher Weise geglückt und gelegentliche Straffungen hätten dem Film trotz einer Laufzeit von nur 77 Minuten durchaus guttun können.

    Dem ungewöhnlichen Inhalt von „Dicke Mädchen" entspricht die gewöhnungsbedürftige Optik: körnige MiniDV-Handkamera-Aufnahmen ohne (künstliche) Beleuchtung und voller Unschärfen. Oft unterstützt dieser raue Stil die charmante Natürlichkeit des Films, manchmal gerät er allerdings auch vorübergehend zu sehr in den Vordergrund. Insgesamt verwandeln die Beteiligten die finanziell bedingten Einschränkungen jedoch sehr häufig in Stärken: So stiehlt die als Schauspielerin völlig unerfahrene 90jährige Ruth Bickelhaupt (übrigens die Großmutter des Regisseurs) als Mutter Edeltraut ihren professionellen Partnern Peter Trabner und Heiko Pinkowski die Schau und glänzt mit einer ebenso ungekünstelten wie sympathischen Darstellung.

    Fazit: „Dicke Mädchen" ist eine wunderbar andersartige Komödie mit herrlicher Situationskomik und ebenso überzeugenden ernsten Tönen. In dieser mit Mini-Budget produzierten Kino-Überraschung steckt deutlich mehr Herzblut als Geld.

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