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    Coco - Lebendiger als das Leben!
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Coco - Lebendiger als das Leben!
    Von Andreas Staben

    Der Dia de los muertos (der Tag der Toten) ist in Mexiko mehr als bloß irgendein Feiertag, die traditionellen Festivitäten zum Gedenken an die Verstorbenen sind von der UNESCO sogar auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden. Der jeweils vom 31. Oktober bis zu Allerseelen am 2. November andauernde feierliche Reigen steht exemplarisch für die besondere Verbundenheit der mexikanischen Bevölkerung mit ihren Familien und Vorfahren. Die Unverbrüchlichkeit verwandtschaftlicher Bindungen ist auch einer der höchsten Werte im Unterhaltungsimperium des Disney-Konzerns und da passt es durchaus, dass der der Tag der Toten und seine Folklore nun im Zentrum des 19. abendfüllenden Pixar-Abenteuers „Coco - Lebendiger als das Leben!“ stehen. Noch nie zuvor sind die Animationskünstler aus Kalifornien so tief in eine andere Kultur eingetaucht wie hier und das Ergebnis ist bemerkenswert: In jeder einzelnen Einstellung ist der Respekt vor den Traditionen der porträtierten Welt zu spüren, die Liebe zum Detail und der einmal mehr erstaunliche visuell Einfallsreichtum machen „Coco“ zu einem weiteren Meilenstein in der Animationskunst. Doch während Regisseur Lee Unkrich („Toy Story 3“) und sein Team technisch immer neues Terrain erobern, bleiben sie mit der allzu formelhaften Ein-Junge-geht-auf-eine-Reise-Geschichte erzählerisch deutlich hinter innovativen Vorgängern wie „Alles steht Kopf“ zurück.

    Der zwölfjährige Miguel Rivera (Stimme im Original: Anthony Gonzalez) hat einen großen Traum: Er will Musiker werden! Doch leider ist jede musikalische Betätigung im Hause seiner Familie verpönt, seit sein Ururgroßvater einst Frau und Kind verlassen hat, um seine Karriere als Troubadour voranzutreiben. Miguels Eltern und die strenge Oma Abuelita (Renée Victor) wünschen, dass der Junge Schuhmacher wird, wie es seit jenen Tagen Familientradition ist. Doch der schaut sich lieber heimlich die alten Filme des lange verstorbenen Superstars Ernesto de la Cruz (Benjamin Bratt) an und übt dessen Hits auf der Gitarre: Am Tag der Toten findet auf dem Marktplatz ein Talentwettbewerb statt und bei dem will Miguel antreten. Aber seine Pläne werden durchkreuzt und nach einer Verkettung unglücklicher Umstände landet der Junge mit dem streunenden Hund Dante im Land der Toten. Um in die Welt der Lebenden zurückkehren zu können, braucht er den Segen eines verstorbenen Familienmitglieds. Die einst so schmählich verlassene und weiterhin unversöhnliche Ururoma Imelda (Alanna Ubach) ist dazu bereit, allerdings hat sie eine Bedingung: Miguel soll der Musik endgültig abschwören. Der setzt seine ganze Hoffnung deshalb lieber auf sein verstorbenes Idol Ernesto De la Cruz – und erlebt weitere Überraschungen…

    Die Prämisse von „Coco“ ist sehr grob gezimmert. Wie ein Fluch liegt der Bann jeder Musik über den Riveras: Wenn sich von der Straße das Lied eines Mariachi-Sängers ins Haus schleicht, dann wird voller Panik das Fenster geschlossen. Der Berufswunsch des Juniors ist vor diesem Hintergrund viel mehr als ein naserümpfend zur Kenntnis genommener Traditionsbruch und kommt einem Verrat gleich. Der Konflikt hat in seiner Absolutheit etwas Märchenhaftes, zugleich wird Miguel als ganz normaler Junge mit ganz normalen Träumen dargestellt. Wenn die vor allem von der Großmutter rabiat torpediert werden, dann treibt das die Handlung zwar schnell und effektiv auf die nächste Eskalationsstufe, aber vom Erzählton her ist das wenig schlüssig. Auch die Figurenzeichnung schafft da wenig Abhilfe: Der junge Held ist ein natürlicher Sympathieträger, hat aber wenig Persönlichkeit. Sein späterer Weggefährte Hector (Gael Garcia Bernal), der als Außenseiter im Reich der Toten um seine letzte Chance kämpft, nicht vergessen zu werden, ist die weitaus interessantere Figur, bekommt aber wenig Platz zur Entfaltung, während das vermeintliche Vorbild Ernesto de la Cruz auf den ersten Blick als eitler Schleimbolzen und auf den zweiten als rücksichtsloser Egoist erkennbar ist, was dann auch mit breiten Pinselstrichen ausgeschlachtet wird.

    Viel mehr als von der generischen Handlung, die vor allem im Mittelteil des Films deutliche Durchhänger hat, lebt „Coco“ von der Stimmung einzelner Szenen und von seinen eindrucksvollen Bildern. Wenn sich zu den Klängen eines melancholischen Liedes ein alter Mann im Reich der Toten gleichsam in Staub auflöst, weil kein Mensch in der Welt der Lebenden sich mehr an ihn erinnert, und die ausdrucksstarken Augen in seinem weißen Schädel wehmütig Abschied nehmen, dann bringt das die Grundthemen von Leben und Erinnerung, Tod und Vergessen viel prägnanter auf den Punkt als der bemühte Familienzwist der Haupthandlung. Ansonsten zeigen sich selbst in den Falten der uralten Uroma Coco (die Titelfigur hat hier eine recht kleine, aber bedeutsame Nebenrolle) mehr Drama und Emotionen als in allen Dialogen des in einer unspezifischen Zeit nahe der Gegenwart angesiedelten Films. Es ist ein wenig so, als wollten sich die Filmemacher nicht mit prosaischen Worten aufhalten, wo sie doch so damit beschäftigt sind, poetische Bilder auf die Leinwand zu zaubern. Und beim Anblick etwa der sonnenfarben leuchtenden Brücke aus Ringelblumenblättern, die die Sphären der Lebenden und der Toten miteinander verbindet, könnte man es ihnen kaum verübeln. Die schimmernde, immer leicht in Bewegung befindliche Brücke ist ein echtes Animationswunderwerk und zugleich ein tolles Bild für den Schwebezustand zwischen Leben und Tod.

    Am Tag der Toten wird das Brückenschlagen durch Erinnerungen gefeiert, die gedeckten Erdtöne des Films werden vom Leuchten der Blüten gleichsam belebt. Von der Architektur bis zu den Skelett-Kostümen werden dazu mexikanische Traditionen auf die Leinwand gebracht – inklusive eines amüsanten Frida-Kahlo-Augenbrauen-Gags. Selbst der quirlige Hunde-Sidekick Dante ist nicht irgendein Vierbeiner, sondern gehört der einheimischen Rasse der Xoloitzcuintle (kurz Xolo) an. Die drolligen Eskapaden von Miguels treuem Gefährten sorgen für kleine Humoroasen in der über weite Strecken erstaunlich ernsten Geschichte, aber zur wirklich bemerkenswerten Figur wird der Racker erst als er im Reich der Toten mit den dortigen bunt leuchtenden, fliegendem Fabeltiere zusammentrifft, die dem vornehmlich in Erdtönen gehaltenen Design des Landes jenseits der Blumenbrücke nicht nur einen Farbtupfer geben, sondern auch einen kleinen surrealen Touch. Den wiederum unterstreicht Komponist Michael Giacchino (Oscar für Pixars „Oben“) subtil: Mit seiner marimba- und gitarrenlastigen Musik webt er dem Mexiko-Ausflug einen stilechten Klangteppich, während das Duo Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez mit „Remember Me“ (deutsch: „Denk stets an mich“) einen eingängigen Mottosong beisteuert, der allerdings nicht die unwiderstehlichen Ohrwurmqualitäten ihres Superhits „Let It Go“ aus „Die Eiskönigin“ besitzt.

    Fazit: Mit „Coco“ übertreffen sich die Macher von Pixar rein animationstechnisch wieder einmal selbst, erzählerisch dagegen bietet der Film trotz eines sehr emotionalen Finales weitgehend Durchschnitt.

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