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    Der Verdingbub
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der Verdingbub
    Von Tim Slagman

    Seinen Anfang nahm dieser düstere Brauch wohl Anfang des 19. Jahrhunderts und war bis 1970 meist vertuschte Realität in der ländlichen Schweiz: Kinder aus verarmten Familien, manchmal auch Waisen wurden als Arbeitskräfte an Bauern „ausgeliehen" – etliche der Opfer wurden ihren Eltern sogar mit Zwang weggenommen. Auf den Höfen erwartete die sogenannten Verdingkinder zwar Kost und Logis, aber häufig auch Misshandlung und Qual. Dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte schildert Markus Imboden in seinem wuchtigen Heimatdrama „Der Verdingbub" differenziert, ohne Beschönigung und mit einem genauen Blick auf die Epoche und die Lebensumstände aller Beteiligten. Der vieldiskutierte Film zog in der Schweiz die für dortige Verhältnisse erstaunliche Zahl von über 235.000 Zuschauern ins Kino.

    Die Schweiz in den 1950er-Jahren: Max (Max Hubacher) kommt aus dem Waisenhaus auf den Hof der Familie Bösiger. Als der Sohn des Hauses Jakob (Max Simonischek) vom Militärdienst zurückkehrt brechen alte Konflikte wieder auf. Das desillusionierte Sippenoberhaupt Bösiger (Stefan Kurt) gibt sich zunehmend dem Alkohol hin, Jakob hasst Max, weil sein Vater dem Verdingbub angeblich mehr Zuneigung schenkt als ihm und die Bösigerin (Katja Riemann) versucht mit allen Mitteln, die Familie zusammenzuhalten. Max‘ Alltag ist bestimmt von Prügel, harter Feldarbeit, einer langsam wachsenden Freundschaft mit seiner Schicksalsgenossin Berteli (Lisa Brand) – und dem nächtlichen Spiel auf dem Akkordeon. Allein die Dorflehrerin Esther (Miriam Stein) ermutigt ihn, seinem Talent zu folgen. Doch das lässt Jakob nicht zu...

    Grau ist der Himmel über den Bergen, der Acker schmutzig, die Decke der Stube hängt niedrig und schwer über den Menschen. Markus Imboden („Frau Rettich, die Czerni und ich") interessiert sich nicht für Alpenpanoramen, nicht für den Blick ins Tal, sondern für das Rohe, Steinige, den anstrengenden Anstieg, die steilen Felder. Er blickt bergauf, nicht bergab, wo die Stadt Erlösung verspricht. So etabliert der Regisseur eine Welt, in der ständige Entbehrung an der Tagesordnung ist und das Gemüt der Menschen womöglich zwangsläufig gemeinsam mit dem Acker verhärten muss.

    Imboden zeigt eine Welt im Umbruch, deren Verlierer die Menschen sind. Die Landwirtschaft wirft nichts mehr ab: Wenn Max in der Dorfkneipe mit dem Akkordeon aufspielt oder Jakob beim Schwingen – einer in der Schweiz äußerst populären Variante des Ringens – antritt, dann stehen die Bösigers draußen, neben der offiziellen Tribüne mit den Sitzplätzen und essen heimlich ihr mitgebrachtes Brot. Es ist verständlich, dass es daheim oft Suppe gibt – ohne Fleisch – und genauso verständlich, dass Max „diesen Dreck" nicht mehr essen will.

    Was man dagegen sehr viel weniger versteht, sind die Schläge mit dem Gürtel, die Verbannung in den Schweinestall und die weitaus grausigeren Dinge, die Berteli widerfahren. Imboden zeigt diese Grausamkeiten nicht aus Sensationslust, sondern als geradezu logische Konsequenz der geschilderten Lebensumstände. Er erzählt präzise, zeichnet individuelle Charaktere und hat gleichzeitig ein so genaues Gespür für die Zeitumstände, dass seine Figuren zu beispielhaften Typen werden. Nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter schildert Imboden mit größtmöglicher Differenzierung und schafft es gleichzeitig pauschale Schuldzuweisungen zu vermeiden und doch klar Stellung zu beziehen.

    Fazit: Markus Imboden erzählt in „Der Verdingbub" so authentisch wie emotional von den Schicksalen der „Verdingkinder" und entwirft zugleich mit leichter Hand, dabei aber sehr gewissenhaft und genau ein Porträt der Schweizer Provinz Mitte des vergangenen Jahrhunderts.

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