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    Stories We Tell
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Stories We Tell
    Von Katharina Granzin

    Wie mehrdeutig der Titel ist, den die kanadische Filmemacherin Sarah Polley für ihren Dokumentarfilm „Stories We Tell“ gewählt hat, offenbart sich erst nach und nach. Natürlich geht es beim Filmemachen darum, Geschichten zu erzählen. Das ist nicht anders, wenn man, wie Polley es tut, der eigenen Familiengeschichte filmisch nachgeht. Und natürlich hat jeder Mensch seine eigene Perspektive, seinen eigenen Ausschnitt der Welt beizusteuern, wenn man versucht, ein großes Ganzes erzählend zusammenzusetzen. Was die Wahrheit, falls es so etwas gibt, hinter den Bildern und Erzählungen ist, lässt sich im Nachhinein kaum noch rekonstruieren. Das, was man erzählend neu konstruiert, ist lediglich eine Annäherung an das, was wirklich war. Aber dieser Prozess der Annäherung kann ungemein aufregend und kreativ sein. Das zu zeigen, ist eines der großen Verdienste von Sarah Polleys Film.

    Sarah Polley, die bereits als Kind vor der Kamera und auf der Bühne stand, ist Schauspielerin und Filmregisseurin und in beiden Disziplinen sehr erfolgreich. Sie entstammt einer Künstlerfamilie. Ihre Eltern, der Brite Michael Polley und ihre Mutter Diane, waren selbst bekannte Schauspieler in Kanada; Michael zudem ein begabter Autor. Es ist ein Zeichen töchterlicher Wertschätzung, dass „Stories We Tell“ mit einer Szene beginnt, in der Michael Polley im Studio einen Text einspricht, den er über Sarahs Mutter geschrieben hat. Diane Polley, im Alter von 54 Jahren an Krebs verstorben, wird in zahlreichen Filmaufnahmen auch selbst gezeigt. In der Familie wurde auch privat viel gefilmt, außerdem gibt es Szenen mit Diane als Schauspielerin. Die Filmschnipsel zeigen eine schöne, lustige, temperamentvolle Frau. In Interviews wird sie von Familienmitgliedern und Freunden als mitreißend und voll menschlicher Wärme geschildert. Im Laufe des Films aber bekommt dieses Bild Risse. Eheprobleme werden thematisiert: Michael Polley spricht offen darüber, dass in der Beziehung nicht alles zum Besten stand, und gibt sich selbst und seiner zurückgezogenen Art die Schuld daran. Allmählich wird aufgedeckt, dass Diane während eines Engagements in einer anderen Stadt eine Affäre hatte. Noch allmählicher schälen sich andere verdeckte Wahrheiten heraus; vor allem die Tatsache, dass Sarah, die als einzige der Geschwister dem Vater nicht ähnlich sieht, in Wirklichkeit die biologische Tochter eines anderen Mannes ist. Die Frage und die Suche nach Sarahs biologischem Vater ist plötzlich das neue Thema des Films. Ab jetzt richtet die Regisseurin die Kamera immer wieder auch auf sich selbst.

    Die Aufdeckung dieses Familiengeheimnisses trug dazu bei, dass „Stories We Tell“ in Kanada ungemein intensiv rezipiert wurde. Die Polley-Familie ist prominent und Gerüchte um Sarahs Abstammung hatten vorher schon die Runde gemacht. Doch die Stärke des Films liegt gerade darin, dass es Sarah Polley gelingt, bei aller höchstpersönlichen Involviertheit ihre Geschichte so zu erzählen, dass sie gleichsam überpersönliche Bedeutung erhält. Das erreicht sie nicht zuletzt durch die Offenlegung der filmischen Verfahren, die sie nutzt: durch das Kenntlichmachen von Interviewsituationen als solchen; durch die Kontrastierung widersprüchlicher Aussagen der interviewten Personen im Schnitt; dadurch, dass sie selbst mit im Bild erscheint, teilweise auch in Situationen, die offensichtlich für die Kamera nachgestellt wurden. Wie weit die Verwendung von selbst erzeugten Bildern geht – das ist so raffiniert wie spielerisch gemacht –, erkennt man als Zuschauer allerdings erst relativ spät – ein kontroverser Clou. Egal aber, woher die Bilder stammen, und die Geschichten, die sie erzählen: Jederzeit ist die große Zuneigung spürbar, die die Filmemacherin ihren Interviewpartnern – Familie und Freunden – entgegenbringt. Kritische oder gar bohrende Nachfragen unterlässt sie: Alle erzählen nur das, was sie wollen. Denn es geht Polley gerade nicht darum, die nackte, vielleicht trostlose Wahrheit hinter all den Erzählungen und Mythen zu finden. Es geht um den Prozess des Erzählens selbst – und nicht zuletzt darum, zu zeigen, wie das gegenseitige Sich-Erzählen eine gemeinsame Geschichte und, allen möglichen Brüchen zum Trotz, persönliche Verbundenheit schafft.

    Fazit: Man muss sich nicht für die Familiengeheimnisse der Polleys interessieren, um von diesem außergewöhnlichen Dokumentarfilm hingerissen zu sein: In „Stories We Tell“ macht Sarah Polley die künstlerischen Mittel filmischen Erzählens mit zum Thema und reflektiert sie spielerisch.

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