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    Drachenmädchen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Drachenmädchen
    Von Andreas Günther

    Wie lernt man Kung Fu? Mit endlosem Training und harschem Drill oder durch buddhistische Meditation und religiöse Überzeugung? In Klassikern des Kung-Fu-Films wie „Die 36 Kammern der Shaolin" gingen Spiritualität und Körperbeherrschung Hand in Hand, die chinesische Wirklichkeit sieht jedoch anders aus und die ist Thema des Dokumentarfilms „Drachenmädchen". Autor, Regisseur, Kameramann und Produzent Inigo Westmeier ist durch „Allein in vier Wänden" und viele Fernseharbeiten eine feste Größe in der deutschen Doku-Szene. Sein Co-Autor, Co-Produzent und Cutter Benjamin Quabeck wiederum verhalf einst als Regisseur von „Nichts bereuen" und „Verschwende deine Jugend" Jessica Schwarz sowie Christian Ulmen zu ihren Kinodebüts. Zusammen haben Westmeier und Quabeck nun einen berührenden, vielstimmigen Film über junge Chinesen im Konflikt zwischen Tradition und Moderne geschaffen.

    In der zentralchinesischen Provinz Henan liegt die 1978 gegründete private Kampfkunstschule Shaolin Tagou. In unmittelbarer Nähe steht der Shaolin-Tempel, in dem der Legende nach einst der indische Mönch und Zen-Buddhist Boddidharma das Kung-Fu entwickelte. Drei Mädchen aus der Masse der etwa 26.000 Schüler, die unter strengen Bedingungen an der Shaolin Tagou Kung-Fu und die chinesische Kickbox-Variante Sanshan erlernen, stehen im Mittelpunkt von „Drachenmädchen". Die neunjährige Xin Chenxi, die von sich sagt, sie sei schon „groß", ist äußerst ehrgeizig, nicht zuletzt durch den Druck ihres auf Leistung erpichten Vaters. Die 15jährige Chen Xi, deren Name „erstgeborene Sonne" bedeutet, empfindet die Schule als einen Käfig und träumt von einer Weltreise. Die zwei Jahre ältere Huang Luolan hat es nicht mehr ausgehalten, ist zu ihren Eltern nach Shanghai geflohen und hat dort ein Nagelstudio eröffnet. Zu Wort kommen außerdem Väter, Großmütter, Trainer, der Schulleiter und nicht zuletzt Shi Yan Zhuang, Koryphäe des Shaolin-Kung-Fu und einer der führenden Köpfe des Shaolin-Tempels.

    Ja, es gibt hinreißende und kraftvolle Kampf- und Schwertchoreographien zu sehen, wobei die Mönche faustdicke Knüppel wie Streichhölzer zerbrechen lassen und ihre bisweilen arg angestrengt wirkenden Schülern ein wenig die Schau stehlen. Doch das eigentliche Anliegen der Filmemacher liegt anderswo: Ob beim unerbittlichen Training, bei inszenierten Aufmärschen, bei kraftzehrenden Wettkämpfen, in den primitiven Unterkünften der Schüler, im Büro des Rektors oder in der Glitzermetropole Shanghai: Inigo Westmeier zeigt eine Gesellschaft im Umbruch. Nicht mehr das Kollektiv steht im Mittelpunkt des Denkens, zunehmend kommt das Individuum zu seinem Recht. So zumindest erzählen es die Filmemacher, denn wie exemplarisch Leben und Gedanken der drei interviewten Mädchen wirklich sind, bleibt offen. Gemein ist zumindest ihnen dreien, dass sie alle vom selben Drachenmythos angezogen waren und nun einen eigenen Weg gehen. Dieses Suchen der Individualität in der Masse unterstreichen die Filmemacher auch stilistisch: Gleich in der ersten Einstellung ist eine Massenszene mit synchronisierten Bewegungen zu sehen, betont wird dabei aber nicht das Pompös-Ornamentale, sondern die kleinen Abweichungen, das angespannte Zittern der Schüler.

    Masse kontra Individuum ist auch das Thema des über die Montage brillant konstruierten, kontroversen Dialogs zwischen Schulleiter Li Heike hinter seinem Schreibtisch und dem buddhistischen Shaolin-Vorstand Shi Yan Zhuang in seinem Schaukelstuhl: Hier geht es um nichts weniger als den Sinn des Kung Fu. Soll der Kampfsport außer zu Gesundheit auch zu innerer Freiheit führen, wie es der Mönch mit einer kaum überhörbaren politischen Nuance sagt, oder soll er, wie der Rektor meint, der Leistungskraft dienen und die „kollektive Mentalität" festigen, die durch brutale wirtschaftliche Umwälzungen bis in die Familien hinein ins Wanken geraten ist? Dem Geist des Shaolin stehen die Schüler, das ist unverkennbar, geradezu befremdet gegenüber – aber sich selbst lernen sie durch ihre harte Ausbildung dafür besser kennen als den Funktionären lieb sein kann.

    Fazit: „Drachenmädchen" ist ein dreifacher Triumph. Der Dokumentarfilm überzeugt als sensibles Porträt der chinesischen Jugend, als stilistisches Meisterstück und als seismographische Studie des Reichs der Mitte.

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