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    Feuchtgebiete
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Feuchtgebiete
    Von Björn Becher

    Bei der Lektüre des Bestsellers „Feuchtgebiete“, dem Debütroman von Ex-VIVA-Moderatorin Charlotte Roche, wird es vielen Lesern ähnlich ergangen sein wie dem Autor dieser Zeilen: Im Kopf entstanden unangenehme und nur schwer zu ertragende Bilder, die Unwohlsein heraufbeschwören. Regisseur David Wnendt hat sich nun der schweren Aufgabe angenommen, diese drastischen Szenen von Verletzungen im Intimbereich und ähnlichen Dingen vom Kopfkino ins wirkliche Kino zu übertragen. Dafür fand er entsprechend heftige Bilder - nicht zufällig berichtete ein bekanntes Boulevard-Medium unter der Schlagzeile „So ekelhaft ist Feuchtgebiete“ über den Film. Tatsächlich aber ist Wnendts stilbewusst inszeniertes Werk visuell fast schon eine Art deutsches „Trainspotting“ und es entstand trotz aller Ekelszenen auch ein feinfühliges Porträt einer ungewöhnlichen Protagonistin, unter deren tougher Schale der Filmemacher gemeinsam mit der hervorragenden Hauptdarstellerin Carla Juri langsam das verletzliche Mädchen zum Vorschein bringt.

    Helen Memel (Carla Juri) ist 18 Jahre alt. Ihre Eltern (Meret Becker, Axel Milberg) sind geschieden und ihre Lieblingsbeschäftigung ist Sex. Sie reißt gerne Männer auf, masturbiert regelmäßig und experimentiert dabei auch mal mit Gemüse. Das zweitwichtigste Thema in Helens Leben ist Körperhygiene, wobei es ihr vor allem darum geht, allen zu zeigen, für wie überschätzt sie diese hält. Als sie sich eines Tages bei der Intimrasur schwer verletzt, muss Helen mit einer Analverletzung ins Krankenhaus. Mit ihrer ungestümen Art bringt sie das halbe Hospital in Aufruhr und verdreht zudem dem hübschen Pfleger Robin (Christoph Letkowski) den Kopf, während der Chefarzt Professor Notz (Edgar Selge) die schwierige Patientin möglichst schnell wieder loswerden will. Die  denkt jedoch gar nicht daran zu gehen. Sie will zum einen wirklich alles über ihre Verletzung am Allerwertesten wissen und hegt zudem die Hoffnung, ihre Eltern am Krankenbett wieder vereinen zu können.

    Dieses Buch sollte weder gelesen noch verfilmt werden. Das Leben hat doch so viel mehr zu bieten als solch ekelhafte Perversitäten. Wir brauchen Gott!

    Das schrieb ein Nutzer auf der Online-Plattform der BILD-Zeitung über den über 2,5 Millionen Mal verkauften Debütroman von Charlotte Roche. Regisseur David Wnendt stellt dieses Zitat seinem Film voran, greift es sogar später auf -  wohlwissend, dass der ähnliche Reaktionen hervorrufen dürfte. Gleich zum Auftakt zeigt der Regisseur ohne Zurückhaltung wie Helen barfuß durch die Scheiße eines überschwemmten Klos läuft, um anschließend mit ihrer „Muschi“ den verdreckten Toilettenrand aufzuwischen. Später entleiht Helen auf der Gartenparty des Vaters auch mal die Grillzange, um der Freundin ein Tampon zu entnehmen oder sie führt sich einen Griff an ihrem Krankenhausbetts rektal ein, um ihre Analverletzung wieder aufbrechen zu lassen – mit Erfolg: Kurz darauf liegt sie in einer Lache aus Blut. Körperflüssigkeiten gibt es jede Menge zu sehen in „Feuchtgebiete“. Neben viel Blut spielt auch Helens „Mösensaft“ eine wiederkehrende Rolle und das Sperma von vier Pizzabäckern spritzt durchs Bild. Das will und muss man als Zuschauer vielleicht nicht unbedingt sehen, aber es ist nur konsequent, dass sich David Wnendt bei der filmischen Umsetzung der unverblümt-tabulosen Vorlage ebenfalls nicht zurückhält und die Obsessionen der Hauptfigur ungefiltert auf die Leinwand bringt.

    Helen ist ganz wie im Buch auch im Film eine durchaus egomanische Protagonistin und so wird vieles aus ihrer ganz subjektiven Perspektive erzählt – und das nicht nur in ihrem Off-Kommentar, der über die gesamte Spieldauer immer wieder eingesetzt wird. Dies ist ihre Geschichte und die enthält dann auch bewusste Lügen und „falsche“ Wahrnehmungen (etwa aufgrund der Nachwirkungen der Narkose). David Wnendt findet für ihre oft extreme Sichtweise die passende filmische Form und inszeniert einen manchmal an Danny Boyles fiebrigen Junkie-Film „Trainspotting“ erinnernden Bilderrausch, bei dem schon der Vorspann (eine wilde Achterbahnfahrt durch eine Viren-Fantasy-Welt, in der übergroße Bakterien-Monster nach der Kamera schnappen) die Marschrichtung vorgibt. Mit extrem farbgesättigten Aufnahmen, schnellen Schnitten und dynamisch-treibender Musik von Elektro über Klassik bis Punk verleihen der Regisseur, Kameramann Jakub Bejnarowicz („Gnade“), Cutter Andreas Wodraschke („Das weiße Rauschen“) und ihr Team der Erzählung Drive und Tempo.

    Schon in seinem vorigen Werk, dem preisgekrönten Neonazi-Drama „Kriegerin“, zeigte Wnendt einen erstaunlichen visuellen Ideenreichtum. Auch in „Feuchtgebiete“ findet er immer wieder originelle Lösungen: In der angesprochenen Szene mit dem Pizzabäcker-Quartett etwa zitiert der Regisseur offen Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“. Statt eines traumverlorenen Raumschiff-Balletts untermalt Wnendt mit den Klängen von „An der schönen blauen Donau“ einen Zeitlupen-Tanz ganz anderer Art: Die von Pornodarstellern verkörperten Pizzabäcker wichsen über einer Spinatpizza. Zuerst sind ihre erigierten Penisse zu sehen und schließlich schießt langsam das Sperma heraus, wobei sich verschiedene Strahlen in der Luft wie Tanzpartner für einen kurzen Moment begegnen, ehe sie auf den Spinat klatschen. Das hat durchaus fast poetische Qualitäten und durch die stilistische Überhöhung holt Wnendt den pornographischen Inhalt aus der Schmuddelecke – in solchen Szenen findet der Regisseur und Co-Drehbuchautor immer wieder einen ganz eigenen Weg, Roches ungezwungene und unbefangene Erzählweise auf den Film zu übertragen.

    So wie die eigenwillige Heldin zuweilen durchaus die Nerven des Publikums strapaziert, so übertreibt es auch David Wnendt gelegentlich etwas mit seiner Inszenierung. Er nutzt vom Splitscreen bis zur Zeitlupe nahezu alle denkbaren formalen Mittel, aber das funktioniert bei aller Virtuosität nicht jedes Mal gleich gut: Wenn er eine bestimmte bedeutungsschwangere Mischung aus Rückblende und surrealem Fiebertraum, in dem sich die achtjährige Helen einem Ofen mit einem besonderen Braten nähert, immer wieder aufgreift, dann ist das sowohl formal als auch inhaltlich zuviel - obgleich die finale Auflösung dieser Szene eine zentrale erzählerische Bedeutung hat. Diese Schlusswendung wiederum macht aber auch besonders deutlich, dass „Feuchtgebiete“ im Kern nicht etwa eine provokante Ekel-Story, sondern ein eigentlich ganz normales Teenager-Drama über eine junge Frau auf der Suche nach Orientierung ist. Das schließt erzählerische Irrwege wie eine weitgehend überflüssige Nebenhandlung um einen Kleindealer, ein paar Rocker, eine verwechselte Cola-Dose und einen Drogen-Trip mit ein, aber vor allem bekommt die Geschichte Bodenhaftung und ihre Hauptfigur Identifikationspotenzial. Dafür sorgt zu wesentlichen Teilen auch Carla Juri („180°“, „Finsterworld“): Die schauspielerische Leistung der Schweizer Newcomerin ist schlicht herausragend, auch wenn ihr starker Akzent bei der Off-Erzählung stark gewöhnungsbedürftig ist.

    Fazit: David Wnendt findet die richtigen Bilder für Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ und verdichtet den Bestseller gekonnt auf 109 Film-Minuten mit nur wenig unnötigem Beiwerk. Wer schon die Vorlage widerwärtig fand, überlegt es sich besser zweimal, ob er ins Kino geht, aber wer das Buch mochte, wird vom Film begeistert sein und alle anderen sollten auch einen Blick wagen.

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