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    Zwei Tage, eine Nacht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Zwei Tage, eine Nacht
    Von Andreas Staben

    Jean-Pierre und Luc Dardenne haben bereits zwei Mal die Goldene Palme beim Festival von Cannes (1999 für „Rosetta“ und 2005 für „Das Kind“) gewonnen, was extrem selten vorkommt, und es lässt sich ohne Übertreibung behaupten, dass das belgische Brüderpaar zu den renommiertesten Filmkünstlern der Gegenwart gehört. Seine Sozialdramen zeichnen sich nicht nur durch einen ungekünstelten und genauen Blick auf die Welt um uns herum, auf schwierige Lebensverhältnisse sowie kleine und große Ungerechtigkeiten aus, sondern auch durch die Nähe zu den gebeutelten Protagonisten und durch eine zutiefst menschliche, mitfühlende Haltung. So bekommen die Werke der Dardennes trotz aller thematischen Schwere oft etwas Hoffnungsvolles, manchmal auch geradezu etwas Märchenhaftes. Mit ihrem neuesten Film „Zwei Tage, eine Nacht“ nehmen die Brüder die Auswüchse der Leistungsgesellschaft und die Frage nach der Solidarität im Spätkapitalismus ins Visier und finden auch dabei eine optimistische Note. Sie machen aus dem harten Stoff überdies ein klug beobachtetes, bewegendes und überaus spannendes Drama: So wird aus vermeintlich knochentrockenem Problemkino ein regelrechter Sozialthriller.

    Sandra (Marion Cotillard) steht kurz davor, ihren Job in einer kleinen Solartechnik-Firma im belgischen Seraing zu verlieren. Als sie mehrere Wochen krankgeschrieben war, haben ihre Chefs in Sandras Abwesenheit eine Abstimmung unter den übrigen Angestellten durchgeführt: Die Kollegen mussten sich mehrheitlich bereit erklären, auf ihren jährlichen Bonus zu verzichten –  ansonsten würde Sandra gekündigt werden. 14 der 16 Mitarbeiter haben sich aber für die Prämie und damit gegen die kranke Kollegin entschieden. Nach einer vehementen Beschwerde von Sandras Freundin Juliette (Catherine Salée) über den Druck, der von dem Vorgesetzten Jean-Marc (Olivier Gourmet) auf die Mitarbeiter ausgeübt wurde, erklärt sich der Geschäftsführer Dumont (Baptiste Sornin) bereit, die Stimmabgabe wiederholen zu lassen. Bis zum erneuten Votum bleibt der immer noch psychisch angeschlagenen Sandra ein Wochenende Zeit, die Kollegen dazu zu bringen, ihre Entscheidung zu überdenken. Unterstützt von ihrem Mann Manu (Fabrizio Rongione) sucht sie mit jedem einzelnen das Gespräch…

    Die Ausgangssituation klingt zunächst etwas theoretisch, denn man mag sich gar nicht vorstellen, dass ein Firmenboss seine Belegschaft tatsächlich vor eine solch zynische Wahl stellen würde. Aber so wie die Dardenne-Brüder die Entscheidung zwischen Bonus und Kollegin im Detail ausgestalten, ergibt sich doch ein überaus treffendes Bild von dem enormen Druck, der in der Arbeitswelt alltäglich geworden ist und von seinen Folgen. Die Manager der kleinen Fabrik stellen fest, dass die anfallende Arbeit auch ohne die psychisch angeschlagene Sandra geschafft wird (dafür sind nur ein paar Überstunden der anderen nötig) und sehen sofort die Möglichkeit, einen Job einzusparen. Die erbarmungslose Logik, mit der hier der ansonsten gar nicht mal unsympathisch wirkende Geschäftsführer Dumont agiert, ist nicht nur in Belgien längst selbstverständlich geworden. Viele Politiker pflegen so etwas mit Verweis auf den globalen Wettbewerb gerne als „alternativlos“ zu bezeichnen, aber wie hier zu sehen ist, sind es vielmehr die einfachen Angestellten, denen kaum noch eine Alternative bleibt: „Ich habe nicht gegen dich, sondern für die Prämie gestimmt“, so bringt es einer der Arbeiter gegenüber Sandra auf den Punkt.

    Wenn Marion Cotillard („Der Geschmack von Rost und Knochen“) als Sandra die Kollegen trifft oder mit ihnen telefoniert, um sie zum Umdenken zu überreden, ist jeder einzige dieser Kontakte ein kleines Drama. Während einige sofort abblocken und darauf verweisen, dass sie auf das Geld (bis zu 1.000 Euro) nicht verzichten können, weil sie Schulden haben oder studierende Kinder, nutzt ein anderer unter Tränen die Gelegenheit, sich bei Sandra zu entschuldigen, und der Nächste ist wütend, dass sie es überhaupt wagt, ihn um den Verzicht auf die Prämie zu bitten. Ihnen allen gemein ist das Unbehagen an dieser ungewollten Konfrontation, ob sie zwischen Tür und Angel, auf offener Straße, auf dem Sportplatz oder im Minimarkt stattfindet. Jeder steckt in seinem eigenen, jeweils überaus verständlichen Dilemma und es ist herzzerreißend, wenn hier Freundschaften und Überzeugungen ökonomischen Zwängen zum Opfer fallen. Es kommt zu Gewaltausbrüchen und Ehekrisen, aber auch zu Solidaritätsbekundungen und unverhofftem Zuspruch – die Filmemacher fächern ein ganzes Spektrum von Reaktionen auf, ohne dass dies jemals demonstrativ wirken würde und nebenbei bauen sie mit einer Dramaturgie des Stimmensammelns, die an den Gerichtsfilmklassiker „Die 12 Geschworenen“ erinnert, enorme Spannung auf.

    Die bewegliche Kamera folgt Sandra auf Schritt und Tritt, begleitet sie bei ihren kleinen Triumphen und bei den Rückschlägen, der Zeitdruck sorgt für zusätzliche Dynamik. Marion Cotillard lässt allen Starglamour hinter sich und macht die körperliche und seelische Erschöpfung Sandras spürbar. Sie steht immer wieder kurz davor, aufzugeben und selten kam einem eine mögliche endgültige Kapitulation im Kino gleichzeitig so verständlich und so unnötig vor. Ohne ihren Mann Manu, der sich geradezu heroisch um Unerschütterlichkeit bemüht (Fabrizio Rongione zeigt ohne jeden Anflug von Romantikkitsch, dass es die Liebe ist, die Manu diese mentalen Herkuleskräfte verleiht) und sie wie ein persönlicher Trainer durch die zweitägige Tour zu den Kollegen führt, hätte Sandra kaum eine Chance – das Paar steht gleichsam stellvertretend für die Solidarität, die es neben einer großen Portion Glück braucht, um dem neoliberalen Wildwuchs zu trotzen. Zugleich ist aber auch klar, dass dieser Zusammenhalt auf allen Ebenen zunehmend  bröckelt. Und wenn es am Ende zur zweiten Abstimmung kommt, dann haben weniger ihr (durchaus vorhersehbares) Ergebnis und seine unmittelbaren Konsequenzen die entscheidende Bedeutung, sondern die Erfahrung von Menschlichkeit trotz aller Widerstände an diesen dann drei Tagen zwischen Hoffen und Bangen.

    Fazit: Der neue Film der Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne ist in seiner Anlage etwas schematisch, aber erweist sich gerade in seiner Einfachheit als ein weiteres ebenso berührendes wie klarsichtiges Sozialdrama in der ohnehin schon überaus beeindruckenden Filmografie der Brüder.

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