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    Norte - The End Of History
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Norte - The End Of History
    Von Sascha Westphal

    Die Kamera bleibt auf Distanz. Die Frau und die zwei Männer, die in einem Café über Politik und Philosophie, über das Ende der Geschichte und den Nutzen wie die Gefahren extremer Ideen diskutieren, sind kaum mehr als Schatten im Gegenlicht, das durch die Panoramascheiben im Hintergrund fällt. Schon in dieser ersten starren Einstellung seines von Fjodor Dostojewskis berühmtem Roman „Verbrechen und Strafe“ inspiriertem Dramas „Norte, The End of History“ sprengt der philippinische Filmemacher Lav Diaz klassische Sehgewohnheiten. Es ist gar nicht mal die Länge dieser Einstellung, die überrascht. Viel irritierender sind ihre Perspektive und Diaz’ radikales Spiel mit Licht und Dunkelheit. Dieses Bild ist wie jedes andere in diesem gut vierstündigen Epos über einen brutalen Doppelmord und die Menschen, deren Leben er von Grund auf verändert, eine Herausforderung. Seine ganze, schier überwältigende Macht wird es nur auf einer möglichst großen Leinwand entwickeln, auf der auch das Treiben auf der Straße hinter dem Café zu seinem Recht kommt. Denn Diaz lädt den Betrachter ein, seinen Blick einfach schweifen zu lassen und sich so einen ganz eigenen Eindruck von der Welt zu verschaffen.

    Der hochintelligente und extrem begabte Jura-Student Fabian (Sid Lucero) geht nicht mehr in seine Vorlesungen und Seminare. Er trifft sich zwar immer noch mit seinen Professoren und seinen Studienkollegen, aber nur um seine radikalen Ideen zu diskutieren. Die Überzeugung über allem, den Menschen wie dem Staat, dem Glauben wie dem Gesetz, zu stehen, treibt ihn in eine immer tiefere Isolation. Irgendwann ist es dann soweit: Aus einem Gedankenspiel wird Wirklichkeit. Die skrupellose Pfandleiherin Magda (Mae Paner) ist in Fabians Augen einer dieser von Grund auf bösen Menschen, die einfach getötet werden müssen. Also ersticht er sie eines Nachts. Nur muss er auch noch deren etwa 12-jährige Tochter ermorden, die Zeugin seiner Tat wird...

    Der arrogante, die ganze Welt, aber vor allem sich selbst hassende Fabian ist ohne Zweifel ein Wiedergänger von Dostojewskis Raskolnikow. Er glaubt tatsächlich, nur seiner eigenen privaten Moral verpflichtet zu sein, die zugleich auch noch den Keim der Revolution in sich tragen soll. Nur löst sein Mord keinen Aufstand aus, der alle Ausbeuter und Geschäftemacher in Angst und Schrecken versetzen könnte. Er zerstört nur eine weitere Familie. Revolutionen, und das ist die bittere Erkenntnis in „Norte, The End of History“, fressen letztendlich jeden - die, für die sie gemacht werden, genauso wie die Aufständischen selbst.

    Sid Luceros Fabian taumelt von der ersten Szene im Café an in Richtung Abgrund. Seine moralische und philosophische Maßlosigkeit ist dabei genauso zerstörerisch wie sein erbitterter Hass. Er ist ein Monster, aber auch ein Geschöpf der philippinischen Geschichte, die immer noch im Zeichen der Kolonialzeit und der Diktaturen steht. Und so ist da immer auch eine Nähe zwischen Lav Diaz und seinem düsteren Anti-Helden zu spüren. Der Regisseur filmt seinen Protagonisten nahezu ausschließlich in distanzierenden Totalen, aber der Raum um Fabian herum kann noch so groß und weit sein: Der Filmemacher und auch der Betrachter kommen einfach nicht los von ihm. Sein Rigorismus, der die Halbheiten und das Zögern seiner Freunde und Kommilitonen rücksichtslos entlarvt, hat durchaus etwas für sich. Nur fehlt diesem verlorenen Sohn einer wohlhabenden Familie, die ihre Kinder ihren Hausangestellten überlassen hat, am Ende jeder Halt. Er kann einfach nicht aufhören.

    Fabians Geschichte der Vernichtung und Zerstörung ist nur die eine Seite von Lav Diaz’ großem Porträt einer Gesellschaft in permanenter Schieflage. Auf der anderen stehen der arme Arbeiter Joaquin (Archie Alemania), seine Frau Eliza (Angeli Bayani) und ihre beiden Kinder. Der Familienvater, der nach einem schweren Unfall nicht mehr arbeiten konnte und sich aus der Not heraus hoch bei Magda verschuldet hat, wird für den von Fabian begangenen Doppelmord zu lebenslanger Haft verurteilt. Während sich seine Frau alleine als Gemüseverkäuferin durchschlägt, erlebt Joaquin im Gefängnis ein wahres Martyrium. Dennoch reagiert er auf jedes Unrecht und jede Misshandlung nur mit Liebe und Duldsamkeit.

    Wie Fabian hat auch Joaquin etwas von einer allegorischen Figur. Dem durch und durch Bösen steht das absolute Gute entgegen. Der unbändige Hass und die unbedingte Liebe, das sind die beiden Säulen, auf denen Lav Diaz’ Welt steht. Auch darin ähnelt sie dem Kosmos, den Dostojewski in seinen Romanen erschaffen hat. Es ist fast so, als würden sich die Wege von Raskolnikow und dem „Idioten“ Fürst Myshkin kreuzen. Doch anders als der große russische Romancier glaubt Diaz nicht an die erlösende Kraft der Religion. Joaquin, der schließlich in einem unglaublichen Moment über die Realität triumphiert und über der Erde schwebt, ist ein Heiliger ohne Gott, und Fabian ein Verdammter, der nie dem Teufel begegnen wird. Das Spirituelle ist in Diaz’ grandiosen Scope-Bildern, in denen die Menschen eigentlich immer klein und verlassen wirken, auf alle Zeiten mit dem Materiellen verknüpft.

    Fazit: Mit seiner ungewöhnlichen Länge von mehr als vier Stunden (für Regisseur Diaz selbst ist das ein eher kurzer Film) ermöglicht „Norte, The End of History“ dem Betrachter eine ganz andere Kinoerfahrung, Zeit wird zum zentralen Element der Erzählung. Diaz skizziert nicht einfach nur eine zerrissene Welt, er lotet sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Tiefe aus.

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