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    One Zero One - Die Geschichte von Cybersissy & BayBjane
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    One Zero One - Die Geschichte von Cybersissy & BayBjane
    Von Gregor Torinus

    Wir leben in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, in der sich jeder frei entfalten kann. So zumindest besagt es die Theorie, die in der Realität allerdings oft schnell an Grenzen der Toleranz stößt, sobald jemand tatsächlich auffällig von der Norm abweicht. Gerade Homosexuelle sind trotz zunehmender Rechte weiterhin von tatsächlicher Gleichstellung mit der heterosexuellen Mehrheit entfernt. Wie muss es sich da erst anfühlen, wenn man selbst innerhalb solch einer Minderheit als Außenseiter, wenn nicht gar als Freak gilt? In seinem eindrucksvollen Dokumentarfilm „One Zero One – Die Geschichte von Cybersissy & BayBjane“ porträtiert Tim Lienhards zwei ebenso exzentrische, wie selbstbewusste Drag-Queens, die aus dieser Situation persönliche Kraft ziehen.

    „One Zero One“ ist die Geschichte des 48-jährigen Holländers Antoine und des 33-jährigen Deutsch-Marokkaners Mourad, die beide homosexuell sind. Nachdem seine Mutter ihm sein Schwulsein regelrecht auszutreiben versucht hat, musste sich Antoine als Erwachsener quasi „deprogrammieren“, um seine eigene Identität zu finden. Seine Exzentrik und Theatralik verarbeitet er in knallbunter Malerei, fantasievoller Skulpturen und vor allem exaltierten Performances, bei denen er sich in die barocke Bühnenfigur Cybersissy verwandelt. Ganz anders der kleinwüchsige Mourad: Ursprünglich hatte er ein bürgerliches Leben als Anwalt ins Auge gefasst, doch unter der Anleitung von Antoine sieht er die Auftritte als BayBjane zunehmend als persönliche Mission, mit denen er das Publikum zu mehr Mut zur Eigenständigkeit inspirieren kann. Als Antoine wegen einer Psychose zeitweilig in die Psychiatrie eingewiesen wird, macht Mourad alleine weiter und das sehr erfolgreich.

    Mourad ist nicht nur kleinwüchsig, sondern leidet zudem an einer seltenen Knochenkrankheit, wegen der sein Rücken verbogen und seine Finger auffällig verformt sind. Zahlreichen Operationen hat er sich im Laufe seines Lebens unterziehen müssen, darunter einer am Herzen, doch erst als ihm ein Auge entfernt werden muss, beginnt er zeitweise wirklich mit seinem Schicksal zu hadern. Doch auch diesen Schicksalsschlag nutzt er für seine Performance. Als Schlüsselerlebnis beschreibt Mourad die Zeit, während der er in Köln lebte: Durch sein Aussehen ständig von Blicken verfolgt, wurde ihm bewusst, wie gleichförmig der Großteil des Party-Volks eigentlich war. Mourad selbst hat das Selbstverständnis, dass er zwar anders aussieht, aber nicht anders ist. Soweit geht sein Selbstbewusstsein inzwischen, dass er seinen Körper als einzigartiges Kunstwerk bezeichnet. Da er ohnehin stets Blicke auf sich lenkt, erscheint es ihm im Rückblick als nahe liegend, auf die Bühne zu treten.

    Ermutigt wurde Mourad dazu von Antoine, der sein ganzes Leben lang um seine eigene Identität kämpfen musste. Doch sogar aus einer Psychose, die ihn zeitweilig in die Psychiatrie brachte, geht er gestärkt hervor. Dort kam ihm die Einsicht, dass alles „Eins Null Eins, One Zero One“ sei: Die binären Einheiten, die unsere digitale Gesellschaft prägen. Doch auch andere Assoziationen entstehen, zum Beispiel zwei Beine mit einem Loch in der Mitte oder ein Teller mit Messer und Gabel an den Seiten. Bei seinen extravaganten Bühnenshows versucht er in Bereiche vorzustoßen, in denen man nicht mehr genau weiß, was man von dem Dargebotenen halten soll: „Ist das Kunst? Ist das geil? Ist das scheiße? Was ist das?“

    Wie zwei prachtvolle Pfauen bringen Cybersissi und BayBjane mit ihren extremen Persönlichkeiten jeden Club zum Strahlen. Tim Lienhard lässt sich von den beiden Exzentrikern anstecken und geht mit „One Zero One“ weit über die oft nüchterne Gestaltung vieler anderer Dokumentarfilme hinaus. So wie Cybersissy und BayBjane in barocken Kostümen in Techno-Clubs auftreten, so erklingt auch im Film eine völlig ungenierte Mischung aus klassischer und aus elektronischer Musik. Und analog zu den grellen Bühnenbeleuchtungen, spielt auch diese Dokumentation mit grellen Filtern und Farbverfremdungen. So gelingt es Tim Lienhard das besondere Charisma von Cybersissy und BayBjane unmittelbar erlebbar zu machen und gleichzeitig ein Plädoyer für eine wirklich vielfältige Gesellschaft abzugeben, in der Jeder seinen eigenen Weg gehen kann.

    Fazit: „One Zero One – Die Geschichte von Cybersissy & BayBjane“ ist eine  faszinierende Dokumentation über zwei Drag-Queens und die beiden außergewöhnlichen Menschen, die sich hinter diesen Bühnenpersönlichkeiten verbergen.

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