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    Die Reise des Akkordeons
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Reise des Akkordeons
    Von Katharina Granzin

    Der Legende nach gelangte das Akkordeon nur durch einen großen Zufall nach Kolumbien. Ende des 19. Jahrhunderts musste ein Schiff, das mit einer Ladung Akkordeons von Deutschland nach Argentinien unterwegs war, wegen eines Motorschadens einen kolumbianischen Hafen anlaufen. Irgendwie gelangten die Instrumente an Land und wurden mit der Zeit zu einem unverzichtbaren Bestandteil der kolumbianischen Vallenato-Musik. Die Filmemacher Rey Sagbini und Andrew Tucker haben den Vallenato-Virtuosen Manuel Vega und sein Trio vier Jahre lang mit der Kamera begleitet und dabei zum einen die erstaunliche kulturelle Wandlungsfähigkeit eines in Deutschland oft unterschätzten Instruments dokumentiert; zum anderen ist ihnen dabei in ihrer Dokumentation „Die Reise des Akkordeons“ ein Porträt eines besessenen Musikers gelungen, der von seinem Publikum geliebt wird, aber dennoch Jahr für Jahr daran verzweifelt, niemals den wichtigsten Vallenato-Wettbewerb seines Landes zu gewinnen.

    Sagbini und Tucker enthalten sich aller visuellen Schnickschnacks und aufwendigen Inszenierungen. Einmal sitzen die Musiker in einer leeren, dramatisch ausgeleuchteten Hahnenkampfarena und spielen; das ist der Höhepunkt an Dramatisierung, den sie sich leisten. Nicht durch ausgefeilte Inszenierung nimmt Sagbini/Tuckers Film für sich ein, sondern durch die spürbar sympathisierende Begleitung seiner Protagonisten. „Die Reise des Akkordeons“, welche auch den Filmtitel bestimmt hat, geht auf eine Idee des Akkordeonisten Manuel Vega selbst zurück, der die Filmemacher, die ihn schon einige Zeit begleiteten, eines Tages bat, doch einmal bei der Firma Hohner nachzufragen, ob nicht ein Besuch in Deutschland möglich sei. Er wolle so gern einmal die Akkordeonfabrik in Trossingen sehen. Hohner kam den Filmleuten entgegen und machte vieles möglich – und bekam dafür die sympathischste PR, die man sich so als Firma nur wünschen kann.

    Trotzdem wird in „Die Reise des Akkordeons“ zu hundert Prozent die Sichtweise der Kolumbianer eingenommen. Landschaften und Leute in Deutschlands Süden erscheinen aus dieser Perspektive auch für den deutschen Zuschauer auf magische Weise ins Exotische verfremdet. Der erste Schnee ihres Lebens, die winterlichen Hänge des Schwarzwalds, die Heino-CDs an der Supermarktkasse – all das wird, durch die Augen der kolumbianischen Reisenden gesehen, zu Insignien eines ultimativ Anderen. Auch die netten Herren von Hohner erscheinen typenhaft als blasse, steife, überkorrekte Deutsche.

    Das Publikum, das dem gemeinsamen Auftritt der Kolumbianer mit dem Hohner-Akkordeonorchester beiwohnt, könnte kaum bürgerlicher aussehen. „Sie sind solche Musik wohl einfach nicht gewöhnt“, sinniert einer der Kolumbianer nach dem Konzert, wohl etwas enttäuscht, dass die überschäumende Begeisterung, die sonst ihre Auftritte begleitet, diesmal ausgeblieben ist. „Hast du schon mal einen Wurm tanzen sehen?“ fragt der andere. Angesichts der offensichtlichen kulturellen Kontraste erscheint es umso mehr wie ein Wunder, dass aus der Quetschkommode, die sich in Deutschland zum ernstzunehmenden Klassik-Instrument gemausert hat, jenseits des Atlantiks das wichtigste Instrument des urwüchsigen, dramatisch-erzählerischen Vallenato wurde. In der Tat eine weite Reise. Aber am Ende fährt sogar die Heino-CD mit nach Kolumbien: als Geschenk für den Neffen.

    Fazit: Akkordeons der schwäbischen Firma Hohner spielen die Hauptrolle in diesem sympathischen Dokumentarfilm, in dem drei kolumbianische Musiker auf einer Deutschlandreise begleitet werden und nebenbei gezeigt wird, dass in kultureller Gegensätzlichkeit ein ganz besonderer Reiz liegt.

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