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    Tableau Noir - Eine Zwergschule in den Bergen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tableau Noir - Eine Zwergschule in den Bergen
    Von Thilo Podann

    Ob Pisa-Studie oder G8-Gymnasialreform, Schule und Schulpolitik sind in unserer Gesellschaft heiß diskutierte und zum Teil heftig umstrittene Themen. Bei all dem Krisengerede und Reformeifer scheint es nahezu undenkbar, dass eine Schule mit mehrere Jahrgänge übergreifendem Unterricht und einem einzigen Lehrer für alle Fächer (so wie es bereits vor 100 Jahren üblich war) in Europa überhaupt noch existiert. Genau dies ist aber im schweizerischen Kanton Neuenburg (noch) der Fall. In seiner Dokumentation „Tableau Noir – Eine Zwergschule in den Bergen“ präsentiert uns Regisseur Yves Yersin diese kleine Schule, die in einer Berghütte auf knapp 1150 Metern Höhe untergebracht ist. Ein Jahr lang hat er als stiller Beobachter die sechs- bis zwölfjährigen Schüler und ihren Lehrer Gilbert Hirschi mit der Kamera begleitet und liefert uns nicht nur überaus faszinierende Einblicke in ihren schulischen Alltag, sondern gibt uns zugleich eine Ahnung davon, wie eine Alternative zu all den ausgeklügelten neueren Unterrichtsmodellen aussehen könnte. Doch auch diese Schule soll geschlossen werden und Lehrer Hirschi nach 41 Jahren sein Lebenswerk aufgeben.

    Dieser Pädagoge prägt die gesamte Gemeinde, die tiefe emotionale Bindung auch zu seinen ehemaligen Schützlingen zeigt sich offen im herzzerreißend-tränenreichen Finale des Films. Hirschi geht voll in seinem Beruf auf und ist seinen Schülern, mit denen er auf beeindruckend natürliche Art umgeht, fast schon eine Vaterfigur. Offen werden auch schwierige Themen angesprochen und diskutiert. In einer Szene beispielweise fragt Hirschi die Kinder, ob sie beten und spricht anschließend völlig frei von sakralen Zwängen mit ihnen über das Thema. Er drängt seinen Schülern keine Meinung auf, sondern hilft ihnen nur dabei, eine eigene zu bilden - egal wie jung sie sind. Hirschi fordert die Schüler, aber er überfordert sie nicht. Die Ergebnisse dieser feinfühligen Herangehensweise sind auf der Leinwand zu sehen, denn die Kinder von der Bergschule zeigen eine erstaunliche Selbstständigkeit. Das zeigt Yersin beispielsweise in einer Szene, in der vier kleine Kinder ohne Aufsicht mit einer Maschine das Brennholz spalten. Solche Situationen, bei denen einige Pädagogen sicher die Hände über den Kopf zusammenschlagen würden, gibt es immer wieder.

    Auf dem Stundenplan stehen neben Pflichtfächern wie Lesen, Rechnen und Schreiben auch viele Aktivitäten, die in öffentlichen Schulsystemen üblicherweise viel zu kurz kommen. Ausgiebig wird hier gemeinsam gekocht, gemalt, gebastelt und gespielt. Alles unter der Aufsicht von Hirschi, der seinen Schülern nebenbei breitgefächertes Wissen vermittelt. So wird ein Ausflug in den Wald zur Geschichtsstunde und das Kochen in der Gruppe zum Deutschkurs. All dies präsentiert uns Regisseur Yersin gleichsam ungefiltert: Er kommt komplett ohne Interviews, Off-Kommentare oder sonstige erklärende Elemente aus (mit Ausnahme weniger Texttafeln, über die der Film grob in zeitliche Abschnitte eingeteilt wird). Die Akteure vergessen die Kamera schnell und so entsteht eine unnachahmliche und ehrliche Intimität, die ihren Höhepunkt in einer Pausenrauferei findet: ganz großes dokumentarisches Kino! Am Ende der gut zwei Stunden fühlt sich der Zuschauer fast, als hätte er selbst für 120 Minuten die Schulbank gedrückt. Dabei werden sich viele wünschen, dass es mehr Schulen und Lehrer gäbe wie diese und das „normale“ Schulsystem zumindest hinterfragen.

    Fazit: „Tableau Noir“ ist das liebevoll-einfühlsame Porträt einer isolierten Bergschule, wie man sie heute kaum noch für möglich gehalten hätte. Sensibel und angenehm zurückhaltend dokumentiert Regisseur Yersin einen Schulalltag, der zum Nachdenken anregt.

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