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    Julia
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Julia
    Von Lars-Christian Daniels

    Man stelle sich folgendes Szenario vor: Ein Film, für den nur mühsam Fördergelder aufgetrieben werden konnten, feiert seine Deutschlandpremiere. Nach dem mit viel Applaus bedachten Abspann stellen sich die Regisseurin, die Producerin und die Protagonistin eines Dokumentarfilms auf der Bühne den Fragen des Publikums – und just in dem Moment, in dem die Producerin den Zuschauern und Pressevertretern freudestrahlend bekannt gibt, dass ihr kleines Projekt neben einem deutschen auch einen litauischen Verleih gefunden hat, verlässt Hauptfigur des Films wüst pöbelnd das Podium und geht vor die Tür, um erst einmal  in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. „Dreckschweine! Alles Verbrecher! Alle in einen Sack stecken und draufhauen!“ – das sind noch die mildesten Worte, die „Julia“, die Protagonistin in Johanna Jackie Baiers gleichnamiger Langzeit-Dokumentation, bei der Deutschlandpremiere auf dem Filmfest Hamburg 2013 für ihre osteuropäischen Landsleute übrig hat. Ein PR-Gag? Eine gezielte Provokation? Nein. Es ist genau die ehrliche Reaktion, die man von der exzentrischen Transsexuellen erwartet – sie ist eben ein Original, das sich auch bei einem feierlichen Anlass wie diesem nicht verstellt. Und die damit genauso polarisiert wie Baiers Film, der sich 89 Minuten lang intensiv mit der Berliner Prostituierten auseinandersetzt.

    Johanna Jackie Baier lernt Julia zufällig kennen: Rund zehn Jahre vor Erscheinen des Films begegnen sich die beiden in einem Berliner Club. Die Filmemacherin ist sofort fasziniert von der Exzentrikerin, macht Fotos von ihr und beginnt, sie mit der Kamera zu begleiten. Zehn Jahre lang weicht die Filmemacherin Julia, die in ihrer Freizeit Aquarelle malt und die Schule mit einem Einser-Abitur abgeschlossen hat, nur dann von der Seite, wenn diese mal wieder abgetaucht ist, kann den Kontakt zu der heroinsüchtigen Prostituierten mit der tiefen Männerstimme aber immer wieder herstellen. Baier folgt Julia in Stehkneipen und Berliner Szene-Clubs, in heruntergekommene Porno-Kinos, in die WG mit dem am Rande des Existenzminimums lebenden „Woldini“ und sogar in ihr Heimatland Litauen, aus dem Julia einst floh, um ihre Transsexualität im liberaleren Deutschland frei ausleben zu können.

    Wer für die extrovertierte Hauptdarstellerin keine Sympathie empfinden kann, wird J. Jackie Baiers Langzeitprojekt kaum bis zum Ende durchstehen. Julia ist – diplomatisch ausgedrückt – keine leichte Gesprächspartnerin, vielmehr eine extrem anstrengende Person, die die Dokumentation mit ihrem eigenwilligen Naturell zu einer eineinhalbstündigen One-Woman-Show macht. Julia prostituiert sich nicht nur beruflich, sondern legt auch vor der Kamera einen mutigen Seelen-Striptease hin: Immer wieder filmt Baier sie betrunken, auf Drogen oder in psychischen Ausnahmesituationen, sogar beim Oralverkehr mit einem Rentner. Abwenden kann man den Blick dennoch nicht: Das gehört nun mal zu Julias Alltag, der keine Schönfärberei gestattet. Und so authentische Einblicke hinter die Kulissen versiffter Pornokinos, die Baier gekonnt mit melancholischen Stimmungsbildern, Schwarz-Weiß-Fotografien und poetischen Textzeilen kontrastiert, bekommt man auf der großen Leinwand selten zu sehen.

    Nur ein einziges Mal bricht Baier das Filmen auf Wunsch von Julia ab, und das ausgerechnet in einem Moment, in dem man es am wenigsten erwartet: Als Julia in Litauen das Grab ihres Vaters besuchen will, am Ende aber doch nicht die Kraft dafür aufbringt, bittet die Transsexuelle ihre langjährige Begleiterin, die Kamera auszuschalten. Es ist eine rührende Szene, die so gar nicht zur derben Grundnote der Dokumentation passt, und die zugleich deutlich macht, dass sich hinter Julias harter Schale ein weicher Kern verbirgt, den es im rauen Berliner Alltag zu schützen gilt. Die nächtlichen Bilder vom Straßenstrich der Hauptstadt sind die letzten, die Beier ihrem Publikum mit auf den Weg gibt: Die Perspektivlosigkeit ihrer gestrandeten Hauptperson, die neben dem Abitur sogar ein Kunststudium vorzuweisen hat, wird hier förmlich greifbar und beschäftigt den Zuschauer noch lange nach dem Abspann. Der Film „Julia“ mag hier sein Ende finden, für Julia selbst geht es irgendwie weiter – das macht Baiers Dokumentation unmissverständlich deutlich.

    Fazit: „Julia“ ist nicht nur ein ungeschminktes, authentisches Porträt, sondern zugleich eine messerscharfe Milieustudie, die aufgrund der zehnjährigen Produktionszeit noch bemerkenswerter ist.

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