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    Wir
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wir
    Von Lars-Christian Daniels

    Wie entsteht Gewalt? Diese Frage stellten sich die Regisseure Miguel Schütz und Carsten Degenhardt in mehreren Kurzfilmen. Die befreundeten Filmemacher und langjährigen Partner kombinierten ihre drei inhaltlich verwandten Kurzfilme „Blackout“, „KILIAN.“ und „Die Judengasse“ schließlich zu einem Episodenfilm und bringen sie so unter dem Titel „Wir“ in Spielfilmlänge auf die Leinwand. Degenhardts beklemmender „Blackout“, der 2011 auch auf der Berlinale zu sehen war, und Schütz‘ verstörender „Kilian“ sind zutiefst erschütternde, beeindruckende Experimentalfilmperlen und zeigen Gewalt im Alltag von ihrer schrecklichsten Seite: der freundlichen. Der dritte Kurzfilm „Die Judengasse“ kann das hohe Niveau der ersten beiden Episoden jedoch nicht ganz halten.

    Die erste Episode „Blackout“ spielt im Wohnzimmer einer dreiköpfigen Familie, bestehend aus Vater (Eckhard Preuß), Mutter (Catherine Flemming) und Sohn (Nico Liersch). Die Kleinfamilie scheint zunächst intakt, doch den trinkenden Vater und die leiderprobte Mutter plagen finanzielle Probleme, weil der Bau eines neuen Eigenheims mehr Kosten verursacht als kalkuliert. Weil sich der Großvater (Michael Schwarzmaier) querstellt, obwohl er das Geld für eine Finanzspritze hätte, kommt es zum Streit, der in einer Gewalteruption vor den Augen des Sohnes gipfelt.

    Die zweite Episode „KILIAN.“ thematisiert die Fahrt einer Schulklasse zu einem Konfliktseminar, bei dem die Jugendlichen lernen sollen, einander zuzuhören und Konflikte wie Erwachsene zu lösen. Außenseiter Kilian (Patrick Mölleken), der ins Bett macht und in der Jugendherberge daher in einem Einzelzimmer untergebracht ist, wird von seinen Mitschülern nur „Pulli“ genannt und auch während des Seminars permanent gehänselt. Sein Klassenlehrer und der junge Seminarleiter sind machtlos. Der frustrierte Schüler dokumentiert den tragisch endenden Ausflug mit seiner Videokamera.

    Die dritte Episode „Die Judengasse“ spielt zur Zeit des Dritten Reichs: Der jüdische Schneider Henryk Blumenfeld (Oliver Bode) betreibt mit seiner Frau Helena (Elisabeth von Koch) ein Kleidungsgeschäft in der Heidereutergasse, die Schauplatz der Entrechtung der Juden wird. Vor den Türen ihres Ladens zieht die SS mit antisemitischen Parolen durch die Straße, doch die beiden glauben bis zuletzt an die Vernunft des Menschen und das Gute in der Welt. Erst als sich auch ihr langjähriger Freund Georg Schwarzhuber (Thomas Kornack) auf die Seite der Nazis schlägt, erkennen sie den Ernst der Lage.

    „Die Judengasse“ harmoniert schon allein aufgrund des historischen Kontexts nur bedingt mit den beiden ersten Episoden, deren Handlung im Hier und Jetzt spielt und theoretisch in jeder kleinbürgerlichen Familie und Schulklasse vorkommen könnte. Filmemacher Carsten Degenhardt, der bei „Blackout“ und „Die Judengasse“ Regie führte, musste sich nach der Weltpremiere von „Wir“ auf den Hofer Filmtagen 2013 sogar harsche Kritik des Publikums gefallen lassen: Die dritte Episode sei völlig misslungen und würde den Episodenfilm komplett ruinieren. Ganz so schlimm ist es sicher nicht: Die Gründe für das Zustandekommen von Gewalt sind hier nun mal nicht ausschließlich psychologischer, sondern vor allem politischer Natur – und damit zugleich weniger fesselnd als in den anderen beiden Filmen. Degenhardt zeigt mit einfachen Mitteln auf, wie aus früher freundschaftlich gesinnten Mitmenschen durch gruppendynamische Prozesse Mörder werden können, wenn der Staat die Voraussetzungen schafft und die Angst vor Sanktionen überwiegt. Die zutiefst verstörende Wirkung der beiden ersten Episoden erreicht Degenhardt mit seinem 33-Minüter aber nicht.

    Rein handwerklich setzt der Filmemacher in „Die Judengasse“ auf exakt die gleiche Technik wie in seiner beklemmenden ersten Episode: „Blackout“ spielt nur in einem einzigen Zimmer, in dem das Treiben von einer fest installierten Standkamera dokumentiert wird. Diese erfasst zunächst fast den gesamten Raum, zeigt im Laufe der 24-minütigen Spielzeit aber einen immer kleineren Bildausschnitt aus immer näherer Distanz und verlässt am Ende für ein paar (entscheidende) Sekunden die Wohnung. Zwischen den einzelnen Sequenzen spult Degenhardt vor: Die Bilder im Zeitraffer dienen der Überbrückung und der Vermeidung eines sichtbaren Schnitts. Nichts in „Blackout“ scheint einem festen Drehbuch zu folgen, vielmehr scheint der Zuschauer heimlicher Beobachter eines realen kleinbürgerlichen Familiendramas zu werden – und ahnt schon nach wenigen Minuten, welch finsteres Gewitter aus Gewalt und Frustration in Kürze über ihn hereinbricht. Eckhard Preuß, Catherine Flemming und Nico Liersch spielen mit einer begeisternden Authentizität und lassen das Publikum bis ins Mark erschüttert zurück – nicht zuletzt, weil das Ende offen bleibt, aber der Zuschauer sich denken kann, dass zumindest eine der drei Personen die Hölle in den eigenen vier Wänden nicht überlebt.

    Von nicht minder großer Intensität ist die zweite Episode „KILIAN.“, bei der Miguel Schütz Regie führte: Mit der Kamera dokumentiert der von seinen Mitschülern gemobbte Kilian die demütigenden Erlebnisse in einer Jugendherberge und spricht dabei immer wieder zu einem fiktiven Publikum, bis er sich schließlich frustriert auf sein Einzelzimmer zurückzieht und nachts einen folgenschweren Entschluss fasst. Wer Gus Van Sants vieldiskutiertes Amoklauf-Drama „Elephant“ gesehen hat, hat eine grobe Vorstellung davon, was ihn bei „KILIAN.“ in den letzten Minuten erwartet – doch Schütz geht noch einen Schritt weiter und fängt das Massaker in schier unerträglichen, zutiefst verstörenden Bildern aus nächster Nähe ein. Mitschüler wie der arrogante Luis (Timmi Trinks), die sich im Angesicht des Todes in die Hose urinieren und verzweifelt um ihr Leben betteln, schlafende Klassenlehrer, die im eigenen Bett einen panischen Kampf gegen das erstickende Kopfkissen ausfechten, und ein als „Joker“ aus den „Batman“-Filmen geschminkter Massenmörder, dessen Psyche um ein vielfaches gestörter ist, als seine Mitmenschen auch nur erahnt hätten: „KILIAN.“ geht gewaltig an die Nieren und ist der beste der drei Filme, die trotz des qualitativen Abfalls in der dritten Episode als Gesamtwerk überzeugen.

    Fazit: In ihrer Experimentalfilm-Trilogie „Wir“ zeichnen Carsten Degenhardt und Miguel Schütz in erschütternden Bildern nach, wie Frustration in Alltagssituationen entstehen und in einer Gewalteruption gipfeln kann. Die dritte Episode „Die Judengasse“ kann dabei nicht ganz mit den herausragenden Kurzfilmen „Blackout“ und „KILIAN.“ mithalten.

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