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    Risse im Beton
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Risse im Beton
    Von Asokan Nirmalarajah

    2012 eröffnete der kurdisch-österreichische Filmemacher Umut Dag mit seinem tragikomischen Familiendrama „Kuma“ die Berlinale-Sektion Panorama. Beifall fand das sozialkritische Langfilmdebüt des Regisseurs für die detaillierte Darstellung einer kurdischen Einwandererfamilie, deren jüngere Generation sich an dem antiquierten Konzept der Zweitfrau stößt. So sehr die weibliche Perspektive im Mittelpunkt seines Erstlings stand, so sehr ist Dags zweiter Spielfilm – die melancholische Milieuballade „Risse im Beton“ – von einem männlichen Blick geprägt. Der düstere Ghettofilm handelt erneut von einer kurdische Einwandererfamilie, die aber hier durch die kriminellen Irrwege der Männer längst in abwesende Väter, trauernde Mütter und perspektivlose Söhne zerfallen ist. Dank der Besetzung mit erfahrenen Schauspielern und frischen Talenten und Dags Talent für nüchtern-dokumentarischen Realismus ist das Vater-Sohn-Melodram packend, auch wenn die Handlung nicht durchweg überzeugen kann.

    Wien, ganz unten: Nach zehnjähriger Haft taucht der kurdische Ex-Kriminelle Ertan (Murathan Muslu) wieder in seinem alten Viertel auf. Als jähzorniger Jugendlicher wegen Totschlags verurteilt, steht der früh ergraute Mittdreißiger nun mit sorgenvollem Bart vor den Trümmern seiner zerstörten familiären und sozialen Beziehungen. Er findet eine vorläufige Bleibe bei seiner nachgiebigen Mutter, muss aber die Wohnung verlassen, wenn sein rechtschaffener Bruder zu Besuch kommt. Von seinen ehemaligen Komplizen wird Ertan immer wieder dazu gedrängt, an ihren illegalen Geschäften teilzuhaben. Doch der durch den traumatischen Knastaufenthalt geläuterte Ex-Häftling sucht sich lieber eine schlecht bezahlte, aber konfliktfreie Anstellung als Renovierungshilfe in einem Jugendzentrum. Dort freundet sich Ertan mit Mikail (Alechan Tagaev) an, einem fünfzehnjährigen Drogendealer und zornigen Rap-Musiker, der fieberhaft an einem Mixtape arbeitet, um den Sprung aus dem Ghetto zu schaffen. Zudem hat Mikail noch Drogenschulden bei einem von Ertans alten Kumpeln abzuzahlen und versucht das Herz einer Schulhofschönheit zu gewinnen. Als Mikail von Ertans Vergangenheit erfährt, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen.

    Anfangs wirkt es, als wolle Umut Dag mit seiner zweiten Regiearbeit seinen Ruf als Chronist kurdischer Migrantenidentitäten in Österreichs Hauptstadt festigen. Doch im Unterschied zu seinem Debütfilm ist die kurdische Herkunft der Protagonisten in „Risse im Beton“ eher nebensächlich. Sicherlich ist Dags intimer, informierter Blick auf seine kurdisch-österreichischen Antihelden und ihr bedrückendes Milieu gefärbt von seiner eigenen Biografie als ältestes Kind einer kurdischen Einwandererfamilie im Wiener Bezirk Brigittenau. Sein Interesse gilt jedoch vor allem den komplizierten Familienverhältnissen und den Identitätsproblemen seiner sensiblen Protagonisten, für die er neben persönlichen auch etliche filmische Vorbilder hat.

    Dabei knüpft Dags halbdokumentarisches, vorwiegend mit Laien besetztes Straßendrama nicht nur an den europäischen Sozialrealismus eines Mike Leigh („All Or Nothing“) oder eines Jacques Audiard („Ein Prophet“) an. „Risse im Beton“ steht auch in einer Traditionslinie mit schonungslosen Coming-Of-Age-Dramen wie Ken Loachs „Kes“ und energiegeladenen Milieustudien wie Martin Scorseses „Hexenkessel“. Über 105 wohltemperierte Minuten Laufzeit inszeniert Dag eine tragische Winterballade, die mit Nahaufnahmen ungeschminkter, unverbrauchter Gesichter fasziniert. Vor allem der charismatische Hauptdarsteller, Dags Stammschauspieler Murathan Muslu, überzeugt als ein vor Trauer gelähmter, gebrochener Ex-Häftling, der seine Vitalität hinter einem schwermütigen Vollbart verbirgt. Im Gegensatz zu ihm fällt es dem „von der Straße gecasteten“ Alechan Tagaev deutlich schwerer, die Zerrissenheit seiner Figur anzudeuten. Stattdessen verfängt sich der Schauspiellaie immer wieder in übertriebenen Posen.

    Hin und wieder, vor allem wenn es um Mikail geht, wirkt „Risse im Beton“ mit seiner nicht ganz so überzeugenden, recht klischeehaften Handlung wie eine Folge aus einem Reality-TV-Format à la „Berlin – Tag & Nacht“. Etwas zu viel und zu deutlich versuchen Umut Dags und seine Co-Autorin Petra Ladinigg hier zu erzählen, nämlich nicht nur zwei parallel verlaufende Ghetto-Schicksale, sondern auch noch eine Fülle an Nebenhandlungen. Die konventionelle Vater-Sohn-Geschichte überzeugt dabei nicht durchgehend und steuert vor allem auf einen zu vorhersehbaren, wenn auch durchaus ergreifenden Schlusspunkt zu. Dieser starke Schluss kann den Eindruck, dass man alles irgendwie und irgendwo schon einmal gesehen hat, nicht mehr völlig aufheben.

    Fazit: „Risse im Beton“ ist ein feinfühlig-melancholisches Milieudrama über die Risse im familiären und sozialen Gefüge zweier Menschen, die aus verschiedenen Generationen kommen, aber ähnliche Träume und Fehler teilen.

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

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