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    Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe
    Von Gregor Torinus

    Der Filmemacher Philipp Hartmann leidet unter Chronophobie, der Angst vor dem Verstreichen der Zeit. Im Alter von genau 38 ¼ Jahren, bei einer statistischen Lebenserwartung von 76 ½ Jahren somit exakt in der Mitte seines Lebens angekommen, erreicht Hartmanns Angst ihren neuen Höhepunkt. Seine Versuche, dieser Herr zu werden, und seine Suche nach Wegen, das Verstreichen der Zeit zu verlangsamen, hat der Regisseur in Form eines experimentellen Dokumentarfilms verarbeitet. Das Ergebnis ist sehr interessant und auch sehr anregend.

    Als Ausgangspunkt für „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“ hat Philipp Hartmanns sich eine strenge Regel auferlegt: Der Film dauert genau 76 ½ Minuten; jede Minute im Film entspricht somit einem Jahr in der statistisch zu erwartenden Lebensspanne des Filmemachers. Genau in der Mitte des Films muss sich deshalb eine Einstellung finden, welche die Jetztzeit dokumentiert. Dies geschieht in Form des 38 ½ Jahre alten Hartmanns, der „jetzt“ sagt. Innerhalb dieses rigorosen Gerüsts bewegt sich Hartmann jedoch völlig frei. Er mischt die unterschiedlichsten Bild- und Filmformate, wechselt zwischen Vollbild und Breitwandformat, springt umher zwischen Fotos, 16-Milimeter, Super8 und Digitalvideo und lässt auf farbige Aufnahmen Schwarz-weiß-Bilder folgen. Er vermengt Dokumentarisches mit Fiktionalem und Persönliches mit Allgemeinem. Da erklärt dann auch ein Wissenschaftler, dass die Atomuhr, nach der in Deutschland sämtliche Uhren gestellt werden so genau ist, dass alle 18 Monate eine Schaltsekunde eingefügt werden muss, um die Abweichung von der Referenzgröße der Erdumdrehung auszugleichen. In der bolivianischen Salzwüste findet sich ein verlassener verrostetes Fahrerhaus eines Zuges. Jemand hat mit Kreide in Spanisch darauf geschrieben: „Das einzige was hier vergeht, ist die Zeit“. Das Wortspiel kann ebenso heißen: „Das einzige, was hier vorbeikommt, ist die Zeit“. Ein Jahr später hat der hier äußerst seltene Regen die Schrift abgewaschen. Das spanische Wort für Zeit ist skurriler Weise dasselbe, wie für Wetter...

    So vermischt Philipp Hartmann in „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“ auf sehr unterhaltsame Weise genaue Beobachtungen und eine scharfe Analyse mit einem ungebremsten Spieltrieb und viel Sinn für Humor. Dies ist ein Experimentalfilm im besten Sinn des Wortes: Hartmann liefert keine Ergebnisse, sondern bildet seine eigene Suche ab. Er belehrt nicht, sondern gibt Anregungen. Er stellt sich nicht über den Zuschauer, sondern eröffnet einen Dialog mit ihm. Jeder wird diesen Film auf seine eigene Weise sehen und kann etwas anderes aus dem Gesehenen herausziehen. Die gegebenen Informationen sind lediglich Anstöße, die den Zuschauer immer wieder mit sich selbst und mit dem eigenen Verhältnis zum Verstreichen der Zeit konfrontieren.

    Zugleich ist sein Film auch sehr persönlich. Der markante Ausspruch „Die Zeit verstreicht wie ein brüllender Löwe“ ist keine zentralafrikanische Weisheit, sondern ein Satz, den Hartmanns Großmutter ihrem Enkel mit auf den Lebensweg gegeben hat. Der wiederum findet sich inzwischen in der Rolle des Onkels einer knapp dreijährigen Nichte. Hartmann zeigt einen von ihm gefilmten Dialog mit dem kleinen aufgeweckten Mädchen. Zugleich kommentiert er diesem aus dem Off. Der Filmemacher weist darauf hin, dass die Wissenschaft davon ausgeht, dass erst im Alter von drei bis vier Jahren Erinnerungen dauerhaft im Gedächtnis gespeichert werden. Hartmann folgert, dass seine Nichte, wenn sie später diesen Film oder andere Aufnahmen aus dieser Zeit sehen sollte, sich an die gezeigten Szenen nicht wirklich erinnern kann, sondern eine entsprechende Zuordnung rein gedanklich konstruiert. Somit könnten unsere frühesten Erinnerungen in Wirklichkeit Erinnerungen an Fotos, aber nicht an die tatsächlichen Ereignisse sein. Gegen Ende des Lebens wird die genaue zeitliche Zuordnung teilweise ebenfalls wieder unscharf. Ein Test zur Erkennung von Alzheimer zeigt, wie sehr es diese Menschen bereits überfordert, auf einem Kreis die Uhrzeit „Fünf vor Elf“ einzutragen.

    Es geht Hartmann sowieso nicht alleine um das Verstreichen der linearen Zeit. Er macht sich auch Gedanken, über alternative Zeitmodelle. So schildert ein Freund des Filmemachers, dass für die Maya alle 52 Jahre ein Flug durch die Zeit zu Ende geht und ein ganz neues Zeitalter anfängt. Somit wurde deren gesamte Kultur alle 52 Jahre auf „Reboot“ gestellt - inklusive der Überbauung bereits existierender Tempel. Zugleich bastelt dieser väterliche Freund Hartmanns an einer seltsamen Apparatur. Später setzt er sich zusammen mit dem Filmemacher in diese „Zeitmaschine“ und „beamt“ sie beide fort. Da soll noch einmal jemand behaupten, dass Deutsche keinen Sinn für Humor haben...

    Fazit: Die Dokumentation „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“ hält, was der Titel verspricht. Der Film ist skurril und interessant, klug und anregend, witzig und weitsichtig.

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