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    Ich habe meinen Körper verloren
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ich habe meinen Körper verloren

    Netflix will den Animationsfilm-Oscar

    Von Christoph Petersen

    Mit Original-Formaten wie „BoJack Horseman“, „Big Mouth“, „F Is For Family“ und der Anthologie-Kurzfilmsammlung „Love, Death & Robots“ hat sich Netflix zu einer erstklassigen Anlaufstelle entwickelt, wenn es um Animations-Unterhaltung für ein nicht mehr ganz junges Publikum geht. Aber nicht nur deshalb ergibt es Sinn, dass sich der Streaming-Riese nun auch die Rechte an dem surrealen französischen Liebesmärchen „Ich habe meinen Körper verloren“ von Jérémy Clapin gesichert hat.

    Stattdessen schlägt das Portal hier zwei Fliegen mit einer Klappe. Denn mit Filmen wie „Roma“ und „The Irishman“ schielt Netflix schließlich ganz offen nicht nur in Richtung Publikum, sondern mit einem Auge immer auch in Richtung Oscars – und da hat der als erster Animationsfilm überhaupt in der Critic’s Week in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnete „Ich habe meinen Körper verloren“ eben echt gute Chancen, in der anstehenden Saison zumindest eine Nominierung als Bester Animationsfilm einzuheimsen. Besonders genug dafür ist er nämlich auf jeden Fall.

    Eine Hand als Hauptfigur - allein schon außergewöhnlich.

    Basierend auf dem Roman „Happy Hand“ (2006) von „Die fabelhafte Welt der Amélie“-Autor Guillaume Laurant erzählt „Ich habe meinen Körper verloren“ zum einen die Geschichte einer abgetrennten Hand, die sich ihren Weg durch Paris bahnt, um zu ihrem Besitzer zurückzukehren. Dabei lauert es in der französischen Metropole nur so vor Gefahren – von bissigen Ratten bis hin zu widerspenstigen Rolltreppen, ist so eine moderne Großstadt eben einfach nicht auf eine Hand ausgelegt, die ohne den Rest des Körpers allein unterwegs ist.

    Zugleich erfahren wir in Rückblenden von dem in Nordafrika aufgewachsenen Naoufel (Stimme im Original: Hakim Faris), der sich seit dem Unfalltod seiner Eltern etwas verloren in Frankreich als Pizzabote durchschlägt. Zumindest bis er sich eines regnerischen Nachts in eine junge Frau verliebt, die er zunächst nur durch eine Gegensprechanlage kennenlernt. Hinter der körperlosen Stimme steckt die Bibliothekarin Gabrielle (Victoire Du Bois), wegen der Naoufel sogar eine Lehre als Schreiner anfängt, nur um ihr weiter nahe sein zu können...

    Das Leben als Hand ist brutal

    Es ist eine gewagte Mischung, die sich aber als erstaunlich stimmig erweist: Die süßlichen Coming-Of-Age-Erinnerungen werden nämlich immer wieder von erstaunlich schaurigen Einschüben mit der umherstreifenden Hand unterbrochen. Da wähnt man sich dann nicht nur deshalb in einem Horrorfilm, weil der fünffingerige Protagonist mit seinen flinken Trippelschritten an Händchen aus den „Addams Family“-Filmen erinnert. Stattdessen scheut „Ich habe meinen Körper verloren“ auch vor blutigen, brutalen, fast schon goreartigen Sequenzen nicht zurück – und den Rest erledigt dann das absolut herausragende Sounddesign, das tatsächlich vermittelt, wie furchterregend es doch sein muss, sich als nur 15 Zentimeter hohe Hand durch das taubenverseuchte Paris zu bewegen.

    Außer der Vorwegnahme des Umstandes, dass Naoufel irgendwann im Laufe der Geschichte vermutlich eine seiner Hände verlieren wird, haben diese surrealen Szenen auf den ersten Blick gar nichts mit dem Rest der Handlung zu tun. Aber sie evozieren eben ziemlich gelungen jenes Gefühl von Verlust und Angst, mit dem sich der Waise Naoufel ohnehin jeden Tag in seinem Leben herumschlagen muss. So spielt selbst in den sonnigeren Rückblick-Szenen unterschwellig immer auch die Dunkelheit und Schaurigkeit der Hand-Odyssee mit hinein. Die Elemente unterscheiden sich im Stil, im Ton und sogar im Genre total – und ergänzen sich dennoch perfekt.

    In den Rückblick-Szenen scheint die Sonne... und trotzdem passen sie perfekt.

    Die eine große Schwäche des Films bleibt somit die Liebesgeschichte. Mit seiner Konzentration auf Naoufel bleibt für Gabrielle leider mal wieder nur die vorgefertigte Rolle des Manic Pixie Dream Girl. Zu gleichen Teilen hip, fürsorglich und unerreichbar, ist sie am Ende doch nur dazu da, um für den Protagonisten eine erstrebenswerte Partnerin abzugeben. Ihr Bundeswehr-Parka outet sie zwar rein optisch als unangepasste Rebellin, aber wofür (oder wogegen) sie wirklich steht, erfahren wir nicht. Eine vertane Chance in einem Film, der ansonsten aber sehr viel wagt und dabei auch sehr viel richtig macht.

    Fazit: Ein aufregend anderer Animationsfilm, der auf ebenso überraschende wie fruchtbare Weise Horror- und Coming-Of-Age-Elemente miteinander vermischt.

    Wir haben „Ich habe meinen Körper verloren“ auf dem Filmfest Hamburg gesehen.

     

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