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    Göttliche Lage
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Göttliche Lage
    Von Sascha Westphal

    Manchmal fällt es schwer, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen in ihrer ganzen Tragweite wahrzunehmen. Natürlich hat jeder in den vergangenen Jahren immer wieder Begriffe wie „Gentrifizierung“ und „Deindustrialisierung“ gehört und gelesen. Und die meisten werden mit ihnen auch mehr oder weniger persönliche Geschichten und Erfahrungen verbinden. Trotzdem fehlt uns meist etwas. Sei es nun der Überblick, weil wir einfach zu nah dran sind, oder eben die konkreten Kenntnisse, weil wir nicht nah genug dran sind. Außerdem sind diese Prozesse noch längst nicht abgeschlossen. Unsere Gesellschaft steckt noch mitten drin in dieser teils langwierigen, teils aber auch extrem rapiden Metamorphose. So ist es schwer, einen klaren Blick zu bekommen, einen der nicht durch Persönliches verstellt ist. Und genau an diesem Punkt setzen die beiden Dokumentarfilmer Ulrike Franke und Michael Loeken mit ihrer Trilogie über den sogenannten Strukturwandel im Ruhrgebiet an. „Losers and Winners“, „Arbeit Heimat Opel“ und nun „Göttliche Lage“, der Abschluss dieses weit mehr als ein Jahrzehnt umspannenden Projekts, fügen sich zu einem Panorama der Gegenwart zusammen. Sie gewähren eben den Überblick über wirtschaftliche Entwicklungen und soziale Veränderungen, den der einzelne so schwer erringen kann.

    Im 20. Jahrhundert gehörte Dortmund zu den wichtigsten und größten Zentren der Stahlindustrie. Doch das ist nun endgültig Geschichte. Im April 2001 wurde das riesige Stahlwerk Phoenix-Ost im Dortmunder Stadtteil Hörde geschlossen, und damit endete eine ganze Ära. Das Gelände wurde zu einer gigantischen Industriebrache, einem Monument modernen Verfalls, das mit all seiner Macht an das Verschwinden der Arbeit gemahnte. So sollte es natürlich nicht bleiben. Eine Vision musste her, damit auch dieser Phoenix wieder neu aus der eigenen Asche ersteigen würde, und die manifestierte sich schließlich in der „PHOENIX See Entwicklungsgesellschaft“, einer Tochtergesellschaft der Dortmunder Stadtwerke AG. Auf dem ehemaligen Industriegelände soll ein künstlich angelegter See mit Piazza und Marina entstehen. Sein Ufer sollen exklusive Villen und moderne Bürogebäude säumen. Im September 2005 erfolgte der erste Spatenstich für den Aushub des Sees, dessen Befüllung dann am 1. Oktober 2010 im Rahmen eines großen Fests begann.

    Von Februar 2008 an haben Ulrike Franke und Michael Loeken die Entstehung des PHOENIX-Sees begleitet. Die so über mehrere Jahre hinweg entstandene Langzeitdokumentation „Göttliche Lage“ hält die Veränderungen in Dortmund-Hörde, die offensichtlichen genauso wie die unterschwelligen und verdeckten, schon fast beiläufig und doch extrem präzise fest: Der Abriss der letzten Fabrik auf dem Phoenix-Ost-Gelände, der Ausbau und Umbau eines der Gründerzeithäuser an der nahegelegenen Weinberg-Straße, die Sitzungen und Strategiegespräche der Projektplaner und -Verwalter, der Überlebenskampf einer Kiosk-Besitzerin in Seenähe, die Bemühungen eines Hörder Heimatvereins, zumindest Reste der Vergangenheit zu bewahren, und der Bau der ersten Privathäuser mit Seeblick sowie die Erzählungen, die sich nach und nach zu einem Porträt des Wandels zusammenfügen, und die Schicksale, von denen sie zeugen, stehen dabei ganz gleichberechtigt nebeneinander. Franke und Loeken werten und gewichten nicht. Jede Geschichte und jede Begegnung ist erst einmal eine weitere Facette, ein kleines Puzzleteil, das wie selbstverständlich seinen Platz im Ganzen findet.

    Manches klingt geradezu lächerlich, etwa die Probleme, die sich daraus ergeben, dass sich Vögel am See niederlassen. Manches fordert ein verbittertes Kopfschütteln heraus, wie die Geschichte von der erfolgreichen Firma, die gezwungen wurde, ihren lukrativen Fabrik-Standort aufzugeben. Anderes ermöglicht einem einen neuen, von Vorurteilen befreiten Blick auf sogenannte soziale Brennpunkte. Und dann gibt es noch die Aufnahmen, in denen der Polizist Joachim Wegner durch die nördlich des Sees gelegene Weinbergstraße geht und immer mal wieder stehenbleibt, um sich einfach nur mit den Menschen in seinem Bezirk zu unterhalten. In ihnen offenbaren sich ganze Welten, vor denen nicht wenige, vor allem auch die Besitzer und Bewohner der neuen Luxushäuser, einfach die Augen verschließen. Doch selbst in den Momenten des Films, in denen sich der Wahn einer gespaltenen Gesellschaft ganz offen zeigt, bleiben die beiden Filmemacher Beobachter. Nur gelegentlich erklingen mal ihre Stimmen aus dem Off, wenn sie eine Frage an ihre Gesprächpartner richten. Aber selbst in diesen Augenblicken stellen sie sich einfach nur in den Dienst der Geschichten der anderen.

    Fazit: Ein ehemaliges Industriegelände, auf dem tausende Menschen gearbeitet haben, wird neu erschaffen, als Luxus-Quartier mit künstlichen Binnensee, modernen Stadtvillen und einer zum Flanieren einladenden Promenade. Ulrike Frankes und Michael Loekens Dokumentation erzählt auf unspektakuläre und doch höchst eindringliche Weise vom Strukturwandel im Ruhrgebiet. Modebegriffe wie „Gentrifizierung“ und Formeln wie die „vom Ende der Arbeit“ bekommen angesichts der Bilder und Geschichten vom See aus der Retorte eine konkrete Dimension und damit auch eine andere Bedeutung.

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