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    Herbert
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Herbert
    Von Lars-Christian Daniels

    Im Sommer 2014 wurde der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) so viel Aufmerksamkeit zuteil wie nie zuvor: Der selbst an ALS erkrankte Ex-Baseball-Star Peter Frates rief eine großangelegte Spendenkampagne ins Leben und trat mit der sogenannten „Ice Bucket Challenge“ in den sozialen Netzwerken eine Lawine des kollektiven Begießens los. Reihenweise gossen sich Prominente wie Justin Bieber, Taylor Swift oder Cristiano Ronaldo Eimer mit Eiswasser über den Körper, nominierten sich gegenseitig und fanden Millionen Nachahmer auf der ganzen Welt. Auch wenn die Spendenaktion zugunsten der tödlichen Krankheit angesichts des hohen Spaßfaktors gelegentlich in Vergessenheit geriet: Die Teilnehmer der Challenge spürten einmal für wenige Sekunden, was ALS-Patienten jeden Tag durchmachen müssen. Diesen Qualen widmet sich auch Nachwuchsfilmemacher Thomas Stuber in seinem bewegenden Drama „Herbert“, das den Baden-Württembergischen Filmpreis 2015 gewann: In seinem herausragend gespielten Langfilmdebüt skizziert der Regisseur und Drehbuchautor die tödliche Erkrankung eines Ex-Boxers, dem nach der Diagnose nur noch wenig Zeit bleibt, um sein Leben in Ordnung zu bringen.

    Der ehemalige Box-Star Herbert (Peter Kurth) ist schon lange von der großen Bühne abgetreten: Früher als „Stolz von Leipzig“ gefeiert, hält er sich heute nur noch mühsam als Geldeintreiber für den zwielichtigen Bodo (Udo Kroschwald) und als engagierter Amateurtrainer über Wasser. Sein bester Schützling Eddy (Edin Hasanovic) steht vor einer großen Karriere, die er aber schon bald mit einem anderen Coach vorantreiben muss: Irgendetwas stimmt nicht mehr mit Herbert. Erst wird er unter der Dusche von schlimmen Krämpfen geplagt, dann bricht er plötzlich in einer Diskothek zusammen. Die Diagnose ist niederschmetternd: Die Ärzte stellen bei Herbert die unheilbare Nervenkrankheit ALS fest, die seine Muskeln Stück für Stück schwächt und lähmt. Herbert bleiben nur noch wenige Monate zu leben. In der verbleibenden Zeit setzt er alles daran, Frieden mit seiner Tochter Sandra (Lena Lauzemis) und Enkelin Ronja (Lola Liefers) zu schließen, die ihn seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Seine fürsorgliche Geliebte Marlene (Lina Wendel) gestaltet ihm die letzten Monate derweil so angenehm wie möglich...

    Jeden Tag Fleisch, Salat und Eier: Drei Monate lang bereitete sich Hauptdarsteller Peter Kurth („Die Kleinen und die Bösen“) auf seine anspruchsvolle Rolle vor, baute zwölf Kilogramm Muskeln auf und verbrachte viel Zeit mit einem ALS-Patienten, um dessen Herausforderungen im Alltag optimal nachempfinden zu können. Auch im Boxring hatte Kurth bis kurz vor den Dreharbeiten noch nie gestanden, doch zu spüren ist davon nichts: Zu keinem Zeitpunkt hat man das Gefühl, der gelernte Theaterschauspieler würde hier nur irgendeine Rolle spielen. Peter Kurth ist Herbert – seine herausragende Performance und die unaufgeregt erzählte Geschichte, die Thomas Stuber und dem Schriftsteller Clemens Meyer 2014 eine Nominierung für den Deutschen Drehbuchpreis einbrachte, verleihen dem wuchtigen ALS-Drama fast etwas Dokumentarisches. Der Charakterdarsteller besticht von Beginn an mit unheimlicher Präsenz und wird in der zweiten Filmhälte dann so richtig gefordert: Mit Bravour meistert Kurth die Herausforderung, die fortschreitende Gesichtslähmung und deren Auswirkungen auf Mimik und Artikulation authentisch darzustellen.

    Der physische und psychische Verfall des Ex-Boxers schnürt dem Betrachter zunehmend die Kehle zu: Regisseur Stuber, der für seinen Schwarzweiß-Kurzfilm „Von Hunden und „Pferden“ 2013 mit dem Studenten-Oscar ausgezeichnet wurde, weicht seinem Protagonisten nur selten von der Seite und lässt sein Publikum körperlich förmlich mitleiden. In einer der stärksten Sequenzen des Films ruft der gelähmte Herbert unter höchsten Anstrengungen seine Tochter Sandra an, um eine extra eingespielte Kassette mit einer Abschiedsbotschaft vorzuspielen: Die barsche Reaktion der alleinerziehenden Mutter ist einer der mitreißendsten Momente des Films. „Ich hab mich geschämt“, versucht sich der Ex-Knacki in einer verzweifelten Erklärung, warum er sie einst alleine sitzen ließ – und wenn er seinen neuen Rollstuhl erst benutzt, nachdem die rührend um ihn besorgte Marlene die Wohnung wieder verlassen hat, unterstreicht das, wie schwer es dem früheren Modellathleten fällt, seine neue Situation zu akzeptieren.

    Ähnlich wie zum Beispiel Andreas Dresens Tumor-Drama „Halt auf freier Strecke“ steuert auch „Herbert“ auf ein tragisches, unausweichliches Ende zu, wobei der ruhige Erzählton immer wieder durch kurze Gewalteruptionen aufgebrochen wird – zum Beispiel bei einer brutalen Schlägerei im Hinterhof oder einem Besuch bei Ronjas Vater Mark (Marko Dyrlich). Der parallel erzählte Aufstieg von Jungboxer Eddy (Edin Hasanovic, „Schuld sind immer die Anderen“) verleiht der Geschichte ihren zeitlichen Rahmen, der sich über etwa ein Jahr erstreckt: Allein der kurze Zeitraum zwischen Diagnose und Endstadium macht eindringlich deutlich, wie schnell es mit dem Leben vorbei sein kann. Nur ganz selten drückt Stuber zu stark auf die Tränendrüse – etwa, wenn Herbert und sein bester Kumpel Specht (Reiner Schöne) auf der Landkarte gemeinsam durchgehen, an welchen „Route 66“-Stationen sie ihre Motorräder bei einer noch vor der Diagnose geplanten Fahrt hätten auftanken wollen. Dennoch: „Herbert“, der bei der Vorpremiere auf der Filmschau Baden-Württemberg nur rund zwei Dutzend Zuschauer in den Saal lockte, hat ein großes Publikum verdient.

    Fazit: Thomas Stubers Langfilmdebüt „Herbert“ ist ein bewegendes und herausragend gespieltes ALS-Drama, in dem Hauptdarsteller Peter Kurth eine der stärksten Leistungen seiner Karriere abliefert. Seine eineinhalbstüdige One-Man-Show ist allein schon das Eintrittsgeld wert.

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