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    Stronger
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Stronger
    Von Andreas Staben

    Am 15. April 2013 explodierten im Zielbereich des traditionsreichen Boston Marathons zwei selbstgebastelte Bomben. Der heimtückische Anschlag tötete drei Menschen und verletzte hunderte weitere Personen. Einer der zwei Täter starb drei Tage später bei einem Feuergefecht mit der Polizei, sein Bruder und Komplize wurde gefasst und 2015 zum Tode verurteilt. Die dramatischen Ereignisse unmittelbar nach dem Attentat, die Rettungsmaßnahmen und die Verfolgung der Bombenleger stehen im Mittelpunkt von Peter Bergs packendem Terror-Reißer „Boston“ mit Mark Wahlberg, der im Februar 2017 in die deutschen Kinos gekommen ist (zur FILMSTARTS-Kritik). Parallel zur Produktion des Thrillers drehte Regisseur David Gordon Green gewissermaßen als Ergänzung und Gegenstück einen weiteren Film über den fatalen Anschlag und seine Folgen. In seinem Drama „Stronger“ nimmt er eine sehr viel intimere Perspektive ein als Berg und porträtiert Jeff Bauman, einen Augenzeugen und Opfer der Explosionen, dem beide Unterschenkel amputiert werden mussten. Mit sehr viel Gespür für unterdrückten Schmerz und unausgesprochene Gefühle erzählt Green von den Nöten eines Aus-der-Bahn-Geworfenen und unfreiwilligen Helden, von den Widersprüchen zwischen individuellen und kollektiven Bedürfnissen sowie vor allem von der Liebe.

    Boston, im April 2013. Erin Hurley (Tatiana Maslany) hat mal wieder mit ihrem Freund Jeff Bauman (Jake Gyllenhaal) Schluss gemacht, sie hat keine Lust mehr auf seine leeren Versprechungen und seine Unzuverlässigkeit. Aber so leicht gibt der Angestellte beim Großhändler Costco nicht auf. Er hilft Erin beim Spendensammelnaktion und verspricht ihr, sie beim Boston Marathon anzufeuern, an dem sie teilnehmen will. Und tatsächlich steht er am Renntag, dem Patriot’s Day, mit selbstgemalten Plakaten an der Strecke. Aber noch bevor Erin an seiner Position in der Nähe der Ziellinie vorbeikommt, gibt es in kurzer Folge zwei Explosionen. Als Jeff im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein kommt, erfährt er, dass er zu den Opfern eines Bombenattentats gehört und man ihm die Beine unterhalb der Knie abnehmen musste. Seine Familie und Freunde stehen unter Schock, Erin weiß nicht, wie es weitergehen soll. Doch dann erinnert sich Jeff wieder an das Geschehen: Er hat den Täter gesehen!

    Jeff Bauman steht in seinem Rollstuhl und mit einer riesigen Fahne in den Händen auf dem Spielfeld der mit Tausenden Zuschauern gefüllten Eishalle der Boston Bruins. Die Stadt feiert den Überlebenden als Star, für die Menschen ist er die Verkörperung des „Boston Strong“ – das nach dem Attentat entstandene Motto für den stolzen Zusammenhalt einer gebeutelten Gemeinschaft, die sich nicht unterkriegen lässt: Dieses pathetische Ritual einer Heldenbeschwörung wird bei David Gordon Green zum surrealen Spektakel. Er bleibt ganz nah bei dem Aushängeschild wider Willen und Jeff wirkt plötzlich ganz einsam und schwach. Es ist, als würden die Erwartungen der Massen ihm die Energie rauben. Später im Film gerät Jeff in Streit mit seiner Mutter Patty (navigiert geschickt am Rande der Karikatur: Miranda Richardson), weil die ungefragt für ihn ein Interview mit Oprah vereinbart hat. Er weigert sich und sie reagiert, als würde er eine lebenswichtige medizinische Behandlung ablehnen. In „Stronger“ werden die oft fragwürdigen Mechanismen der Heldenverehrung und der Celebrity-Kultur in den heutigen USA sichtbar, zugleich wird aber auch das zweifellos vorhandene Bedürfnis nach Vorbildern und Orientierung ernstgenommen. Wenn Jeff schließlich die Gefühle eines Bewunderers zulässt, der ihn nur aus dem Fernsehen kennt, dann ist es für beide tröstlich. Und auf ähnliche Art hat auch die Anti-Heldengeschichte „Stronger“ durchaus etwas Erbauliches – durch die Kraft der Identifikation.

    Jake Gyllenhaal und Tatiana Maslany zaubern in nur wenigen kurzen Szenen zwei faszinierend lebensechte Figuren auf die Leinwand. Der wenig ehrgeizige Jeff ist schon zu Beginn nicht einfach nur ein großer Junge mit viel Charme, sondern ein überaus komplizierter Charakter, der kaum einmal zur Ruhe kommt. Und auch nach der Explosion gibt es eben nicht eine klare Linie von Verzweiflung über Trotz zu neuer Hoffnung, sondern ein ständig neu zusammengesetztes Gemisch widerstreitender Gefühle. Eben witzelt er noch über seine Verletzung und vergleicht sich mit Lieutenant Dan aus „Forrest Gump“, dann stößt er wieder alle von sich weg und ergeht sich in Selbstmitleid. Gyllenhaal, der auch die physischen Herausforderungen der Rolle bravourös meistert, liefert hier nach „Nightcrawler“ wieder eine oscarreife Leistung, vielleicht noch beeindruckender ist aber die Darbietung von Maslany. Aus „Orphan Black“ kennen wir sie als vielseitige Verwandlungskünstlerin, hier glänzt sie nun als bodenständige Frau, die darum kämpft, sich selbst nicht zu verlieren. Erin kümmert sich aufopferungsvoll um Jeff und fühlt sich ihm verpflichtet, aber zugleich ist sie auch wütend auf ihn und auf sich. Die Zuneigung zwischen den beiden ist dabei trotz all des Ballasts immer zu spüren, das macht das Ringen um ihre Liebe so berührend.

    „Stronger“ mag deutlich konventioneller sein als David Gordon Greens lyrisches Debüt „George Washington“ oder das stille Hinterland-Drama „Prince Avalanche“, und auch mit zotigen Komödien wie „Ananas Express“ oder „Bad Sitter“ hat das Biopic auf den ersten Blick nicht viel zu tun. Die klarste Konstante im weitgefächerten Werk des Regisseurs ist wohl die vollkommen unaufdringliche Art, in der Green eigene Akzente setzt. So wirken hier nicht nur die intimen Momente zwischen Jeff und Erin oft fast schon beiläufig, auch in den Gruppen- und Massenszenen bleibt der Regisseur ganz nah bei seinen Figuren. Dabei ist das Individuelle immer wichtiger als das Exemplarische: Man mag schon viele ähnliche Situationen in Filmen gesehen haben wie Jeffs erste Gehversuche mit seinen Beinprothesen, doch kaum jemand hat einen solchen Moment so unaufgeregt in Szene gesetzt wie Green. An anderer Stelle genügt ihm eine Schärfenverlagerung vom Vorder- in den Hintergrund, um einen subtilen Akzent zu setzen. Und wenn nach der Amputation zum ersten Mal der Verband bei Jeff gewechselt wird („Wollen Sie hinschauen oder nicht?“), dann findet der Filmemacher dafür ohne Effekthascherei und drastische Details eine Einstellung, die den Schmerz und den Verlust mehr als nur anschaulich macht.

    Fazit: Jeff Bauman hat beim Bombenanschlag auf den Boston Marathon 2013 beide Beine verloren – aus dieser wahren Geschichte macht Regisseur David Gordon Green ein besonnenes und dafür umso wirkungsvolleres Drama über einen Mann, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Jake Gyllenhaal und Tatiana Maslany veredeln den Film mit ihren herausragenden Darbietungen.

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