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    Michael S.
    Michael S.

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    4,5
    Veröffentlicht am 7. Juli 2015
    Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Film überhaupt sehen will. Schwere aktuelle Themen in Form eines öffentlich-rechtlichen Fernsehdramas versprechen (bedauerlicherweise) trotz ihrer Brisanz in zu vielen Fällen neunzig bis einhundertachtzig Minuten hochprofessionelle Langeweile mit schwerer Pianomusik. Vielleicht ist es den beiden vielversprechenden Hauptdarstellern Julia Jentsch ("Sophie Scholl") und Ulrich Tukur ("Das Leben der Anderen") zu verdanken, dass ich doch noch einen Blick riskiert habe. Ich habe es nicht bereut.
    Der Film behandelt die Vorfälle um den Missbrauchsskandal an der hessischen Odenwaldschule, die 2010 nach jahrelangem Verschweigen endlich an die Öffentlichkeit gelangten. Die junge Lehrerin Petra Grust wechselt in den späten 1970er Jahren an das legendäre Internat. Die Einrichtung ist zu dieser Zeit längst eine Legende in Sachen Reformpädagogik, durch die jeder Schüler seinen Talenten entsprechend individuell gefördert werden und sich zur einer einzigartigen Persönlichkeit entwickeln soll. Schnell merkt Petra, dass einige Lehrer und der Schulleiter Simon Pistorius ihre ganz eigenen Vorstellungen von der richtigen Beziehung zwischen Schülern und Lehrern haben. Alle scheinen mehr oder weniger direkt zu wissen, was vor sich geht, aber niemand lässt sich darauf ansprechen. Gerade der regelrechte Verfall des jungen Frank Hoffmann (Leon Seidel, den manche vielleicht noch als Helge aus "Stromberg" kennen) macht der jungen Lehrerin am meisten Sorgen. Gegenüber Eltern und Lehrerkollegen stößt Petra jedoch auf eine Mauer des Schweigens und vehementen Abstreitens. Was sein nicht sein darf, kann auch nicht sein. Der aalglatte und geradezu erschreckend einfühlsame Schulleiter (genial gespielt von Uli Tukur) weiß die Vorwürfen geschickt von sich zu strampeln und jeden der Erwachsenen auf seine Seite zu ziehen, denn einer Kollegin zufolge "kann der Simon doch so gut mit Kindern". Wie wahr. Als sich einer der Schüler schließlich das Leben nehmen will, droht Petra den Fall publik zu machen. Ein folgenschwerer Schritt für alle Beteiligten.
    Regisseur Christoph Röhl war selbst einst an der Odenwaldschule als Tutor angestellt und konnte somit Erfahrungen aus erster Hand sammeln. Zudem hat er bereits einen Dokumentarfilm mit dem selben Thema veröffentlicht, was ihn nun auch für die fiktionale Aufarbeitung des Stoffes qualifiziert. Sein Kameramann Peter Steuger fängt im 70er-Jahre-Handlungsstrang bunte harmonische Bilder voller Strahlkraft ein, die im krassen Gegensatz zu den regelmäßigen Vergehen der Lehrkräfte stehen. Deren Auswirkungen zeigt die Farbwahl in der im Jahr 2010 spielenden Rahmenhandlung - die Welt ist (zumindest für die Leidtragenden) trister, grauer und farbloser geworden, denn auch über zwanzig Jahre später werden sie auf einer Podiumsdiskussion von selbsternannten Verfechtern der Schule niedergebrüllt. Erst die leisen Stimmen weiterer Opfer aus den Reihen des Publikums bringen die Verteidiger des gealterten Schuldirektors zum Verstummen und das ganze Ausmaß wird sichtbar. Die Scham ist groß, doch der Kampf gegen das Unterdrücken und Vergessen ewinnt endlich an Bedeutung.
    Selbst als Zuschauer verfällt man am Anfang der skurril-charmanten Art von Tukurs Schulleiter Pistorius, der seine neue Lehrerin im luftigen Bademantel begrüßt und auch gerne mal ohne herumläuft. Duschen tun Schüler und Lehrer ohnehin zusammen, man will ja schließlich Grenzen überwinden und die Kinder und Jugendlichen zu Freiheit und Individualität erziehen. Pistorius nutzt die sexuelle Aufgeschlossenheit der 68er für seine eigenen Ziele und regiert lächelnd als tyrannischer Patriarch. Dass gerade die damals und vereinzelt auch heute noch bejubelte Vorzeigeanstalt der Reformpädagogik von Kinderschändern (denn nichts anderes sind die betreffenden Lehrer) ausgenutzt werden kann, erscheint Eltern, Förderern der Schule und anderen Lehrkräften in diesem Film teilweise ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. In einem so fortschrittlichen System kann es keine Fehler geben, zumindest nicht in dieser Größenordnung. Den Opfern und jenen die ihnen Glauben schenken wird im Zweifelsfall auch überbordende Fantasie und versuchter Rufmord unterstellt. Und Pistorius redet sich die Fälle bei drohender Aufdeckung noch dadurch schön, dass er gemeinsam mit den Kindern ihre Sexualität entdeckt. Ein spannender Satz in einer Zeit, in der Bildungspläne und Ratgeber für die Vermittlung sexueller Toleranz bereits in Grundschulen und Kindergärten ansetzen, um die individuelle "Identität und Selbstbestimmung" des Kindes zu wecken - hauptsächlich vorgeschlagen von Regierenden einer Partei, die sich kürzlich selbst einer Aufarbeitung ihrer Vergangenheit stellen musste.
    Alles in allem ein ebenso bedrückender wie auch in Teilen ermutigender Film der zeigt, dass über Missbrauch gesprochen werden muss und zwar unabhängig davon, wie angesehen und scheinbar fortschrittlich dessen Urheber sind. Einige Lehrer und (teils prominente) Unterstützer der Odenwaldschule glauben ihrer Meinung nach zu Recht nicht, dass "der liebe Simon" zu so etwas fähig ist und wenn doch, dann dient es doch dem Wohl aller oder kann zumindest vertuscht werden. Eben das ist die große Lüge, die Vorfälle wie diese möglich macht und die Opfer über Jahrzehnte oder (wie im Fall eines Suizids) für immer entwürdigt.
    Der Film ist übrigens mittlerweile verboten. Einer der Betroffenen fühlte sich zu deutlich und erkennbar dargestellt, weshalb der Film in seiner ursprünglichen Fassung nicht mehr gesendet oder auf DVD verkauft werden darf. Es lohnt sich dennoch die Augen offen zu halten, denn Bibliotheken und Videotheken haben den Film oft (noch) im freien Verleih.

    Darsteller: Julia Jentsch, Ulrich Tukur, Leon Seidel, Rainer Bock uvm.
    Regie: Christoph Röhl
    Jahr: 2014
    Label: edel:motion/Das Erste
    Spielzeit: 90 min
    FSK: ab 12 Jahren
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