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    Von Hohenschönhausen nach Niederschöneweide
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Von Hohenschönhausen nach Niederschöneweide
    Von Thomas Vorwerk

    Unter den vielfältigen Möglichkeiten, einen Dokumentarfilm zu realisieren, ist die vielleicht abenteuerlichste, sich mit irgendetwas zwischen einer vagen Idee und einer konkreten Fragestellung auf den Weg zu machen und diese investigativen Bemühungen von Beginn an filmisch festzuhalten. Bei dieser Vorgehensweise beginnen Filmemacher und Kinogänger im günstigsten Fall auf demselben Wissensstand (die meisten Krimis funktionieren auch nach diesem Prinzip) und der Zuschauer erlebt gleichsam mit, wie sich der Film „entwickelt“. Wie so etwas aussehen kann, zeigt der unabhängige Berliner Regisseur Volker Meyer-Dabisch („Der Adel vom Görli“) mit „Von Hohenschönhausen bis Niederschöneweide“. In seinem dokumentarischen „Roadmovie“ begibt sich der auf regionale Themen spezialisierte Filmemacher auf eine Erkundungstour in die Nachbarschaft und besucht zwei Berliner Stadtteile mit schlechtem Ruf. Heraus kommt ein abwechslungsreiches Porträt einer Gegend im Umbruch.

    Obwohl er seit längerer Zeit in Berlin wohnt, hat Regisseur Volker Meyer-Dabisch Hohenschönhausen,  Niederschöneweide und einige angrenzende Ortsteile noch nie betreten. Er arbeitet wie immer mit minimalem Budget und macht sich also mit einem hübsch hergerichteten Fahrrad, dessen Anhänger auch Platz für einen „Protagonistenstuhl“ bietet (auf dem man Interviewpartner in Szene setzen kann), auf den Weg, um im ihm unbekannten Osten der Hauptstadt etwas über Stasi-Vergangenheit, Rechtsextremismus und die neue Kreativ-Szene zu erfahren. Hierbei werden Reiseroute und „Richtung“ der Interviewfragen tatsächlich durch die zufällig wirkende Abfolge der Begegnung mit Passanten bestimmt, und es ist erstaunlich, zu welchen filmischen Ergebnissen ein naives Mantra wie „Habt ihr Lust auf'n Interview?“ führen kann.

    Wie der Filmemacher (sein Kameramann bleibt „unsichtbar“) auf seinem aufgemotzten Drahtesel die Distanz zwischen den beiden Stadtteilen durchschreitet, das prägt den Film und gibt ihm Zusammenhalt. Diese durch vorwiegend sommerliches Wetter geprägte und mit angenehmer Gitarrenmusik von Brother Dege unterlegten Passagen bilden die Brücke zwischen den zahlreichen Interviews, die sich trotz ihrer Zufälligkeit mosaikhaft zu einem Gesamtbild verbinden. Stellenweise wirkt die Dramaturgie zwar etwas gefällig, so dass man daran zweifelt, ob sich die Reihenfolge wirklich aller Interviews ohne Zutun von Meyer-Dabisch einstellte, aber in manchen Fällen werden die Gesprächspartner auch auf liebenswerte Art zum „Co-Regisseur“ und lenken den Fortgang des Films, wenn etwa jemand im Gespräch ein interessantes Wahrzeichen erwähnt, das dann als nächstes aufgesucht wird.

    Durch gegensätzliche Geschichten und Standpunkte lässt Meyer-Dabisch dabei ein vielschichtiges Bild der besuchten Kieze entstehen: Ein „Bundesdeutscher“ wurde in Bulgarien bei der Fluchthilfe erwischt und berichtet nun als Zeitzeuge und Touristenführer über den Stasi-Knast, der Zuständige für den Spielgeräteverleih im Freizeit- und Erholungszentrum (FEZ) Wuhlheide hat eine abenteuerliche Erzählung von seiner Republik-Flucht im Jahr 1988 parat, und der Herr mit dem Rollator, der dem Regisseur zufällig beim Mittagessen durchs Bild läuft, arbeitete früher bei der Volkspolizei, habe mit dem „Staatsschutz“ aber nichts zu tun gehabt. Trotzdem besteht er darauf, über Vorgänge, die einst geheim waren, nach wie vor Stillschweigen zu bewahren.

    Ein besonderes Augenmerk wird auf die angeblichen rechtsextremistischen Tendenzen in der Gegend gelegt. Hierbei stellt sich heraus, dass die Zeiten großer Prominenz der neonazistischen Szene mittlerweile vorbei zu sein scheinen. Rechtsradikalismus ist inzwischen ein Kündigungsgrund bei Gewerbevermietungen, und so verschwanden Schandflecken wie das Militaria-Geschäft „Hexogen“ oder das Brutalo-Café „Henker“. Es ziehen auch zunehmend Bürger mit Migrationshintergrund her, aber trotz Rückgang der „sichtbaren“ Glatzenpräsenz ist das Stammwählerpotenzial der NPD und ähnlicher Parteien immer noch auffällig. Es spricht auch irgendwie Bände, dass die einzige Befragte, die offenbar anonym bleiben wollte, bei Plakataktionen der Jusos („Nazifrei und Spaß dabei“) als Helferin entdeckt wurde. Optimismus ist gut, aber Vorsicht ist besser!

    Meyer-Dabisch schlägt einen Bogen von der Vergangenheit - angefangen mit der im Jahr 1230 errichteten frühgotischen Tabor-Kirche bis zur DDR-Zeit, in der Hohenschönhausen zu 80 Prozent von direkten und indirekten Stasi-Mitarbeitern bewohnt war - zur Situation in der Gegenwart. Doch das Resümee der nur 73-minütigen Doku (und somit die Prognose für die beiden Bezirke) fällt gegen Ende versöhnlich aus, wenn es um die Kreativ-Szene geht, um Ai Weiwei und Bryan Adams oder das aus Berlin-Mitte übergesiedelte Künstler-Café „Kiki Blofeld“. Vielleicht wird aus dem oft als „Oberschweineöde“ verunglimpften Oberschöneweide tatsächlich „das nächste Kreuzberg“, eine Ecke des Paradieses. In etwa fünf Jahren könnte es soweit sein, heißt es hier - das dürfte sich dann doch als etwas zu optimistisch erweisen.

    Fazit: Kurzweiliges kulturell-politisches Panorama von (Ost-)Berliner Ortsteilen, die man eher aus Negativ-Schlagzeilen kennt. Wer selbst noch nie dort war, kann sich einen guten ersten Eindruck verschaffen und wer dort lebt, gehört automatisch zum Zielpublikum.

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