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    Sieranevada
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Sieranevada
    Von Christoph Petersen

    Die Neue Rumänische Welle ebbt einfach nicht ab – nach Meisterwerken wie „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ (Goldene Palme) und „Mutter und Sohn“ (Goldener Bär) zählt mit dem Cannes-Wettbewerbsbeitrag „Sieranevada“ auch 2016 wieder ein rumänischer Beitrag zu den Festival-Highlights der Saison: Cristi Puiu („Aurora“, „Der Tod des Herrn Lazarescu“) geht bei seinem mit 9/11-Verschwörungstheorien gewürzten, aus einer faszinierend-eigenwilligen Perspektive gefilmten, immer wieder wunderbar fatalistisch-schwarzhumorigen Familiendrama thematisch wie stilistisch große Wagnisse ein – und liefert ein ebenso präzise inszeniertes wie erzähltes Arthouse-Meisterstück, mit dem er sein Publikum 173 Minuten lang konsequent herausfordert.

    Der größte Teil des Films ist dabei in einer einzigen engen Wohnung in Bukarest angesiedelt: Verwandte und Freunde eines verstorbenen Familienpatriarchen sind für eine Gedenkzeremonie zusammengekommen. Der Zuschauer betrachtet die Zusammenkunft dabei in langen Einstellungen aus den Ecken der verschiedenen Räume oder noch öfter vom Flur, von wo aus er durch halbgeöffnete Türen in die einzelnen Zimmer lugt. Kamerafahrten gibt es keine, nur Schwenks – ganz so, als würde ein Unbeteiligter das hektische Treiben neugierig beobachten, dabei aber nur seinen Kopf hin und her bewegen. Das Resultat ist zum einen eine bedrückende Enge (wie sie wohl viele von ihren eigenen Familienfesten kennen), zum anderen aber auch eine ungeheure Intensität und Lebendigkeit. Und wer weiß: Vielleicht sehen wir das alles ja auch aus den Augen des Verstorbenen, dessen Seele nach dem orthodoxen Glauben noch 40 Tage nach seinem Tod frei herumwandert.

    Die Gedenkfeier findet zufällig nur drei Tage nach dem Angriff auf die Pariser Satireredaktion Charlie Hebdo im Jahr 2015 statt – und ausgehend von diesem Ereignis kommt die Sprache auch immer wieder auf die Verschwörungstheorien rund um die Anschläge vom 11. September. Ein ganz schönes Pfund also, das Christi Puiu hier als Metapher auspackt – aber was leicht als Holzhammer-Gleichnis den ganzen Film hätte runterziehen können, erweist sich als subtiler Rahmen für ein ganzes Netz an Verschwörungen (von der großen Lebenslüge bis zur Notflunkerei, mit der ein cholerischer Ehemann zur Vernunft gebracht werden soll) und Geschichtsverklärungen (ein Generationenduell zwischen der alten Kommunistin und einer jungen Mutter endet in bitteren Tränen). Der vehementeste 9/11-truther unter den in der Wohnung Versammelten sagt einmal: „Wir geben unseren Komfort auf, um nach der Wahrheit zu suchen.“ Auf YouTube ist das Anzweifeln vorherrschender Meinungen und vermeintlicher Fakten aber natürlich deutlich weniger schmerzhaft als in der eigenen Familie.

    Fazit: Thematisch wie inszenatorisch faszinierend und brillant – ein weiteres Muss-man-gesehen-haben-Drama aus der Arthouse-Großmacht Rumänien!

    Wir haben „Sieranevada“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.

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