Mein Konto
    Bringing out the Dead
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Bringing out the Dead
    Von Ulrich Behrens

    „Now listen, Julie baby,

    It ain’t natural for you to cry in the midnight.

    It ain’t natural for you to cry way into midnight through,

    Until the wee small hours long‚ fore the break of dawn,

    ...

    More further‚ way than what you’re lookin’ for.

    I see the way you jumped at me, Lord, from behind the door

    And looked into my eyes.“ (1)

    Es pulsiert, wie bei einem asthmatischen Anfall, einem Anfall, der jedoch kaum Pausen kennt. Ein permanenter Gang durch die innere Hölle, die sich im Außen spiegelt. New York. Vor Rudi Giulianis „Aufräumarbeiten“. An jeder Ecke Prostituierte, Dealer, Junkies, arme Schweine, Verrückte, white trash, black trash, trash in allen Farben und Größen. Das Herz der Stadt schlägt, unaufhörlich. New York ist Nacht, fast nur Nacht. Da ist nichts Reines, Erhebendes, Erhabenes, schon gar keine political correctness, keine pseudoliberale Grundstimmung, kein Herz für Tiere und schon gar nicht für Menschen. Da ist nur die Kehrseite der Medaille.

    Scorsese schafft Licht, benutzt das künstliche Licht der Großstadt, um die Hölle zu zeigen, die nicht nur Hölle ist, nicht nur menschliche Tragödie. Die Lichter der Straßenbeleuchtung, der Türme, die in den Himmel ragen, der Autos, der Polizeisirenen. Es kracht und quietscht an allen Ecken und Enden, es schreit und lärmt. Man könnte vermuten, jeden Moment kreuze Travis Bickle, der Vietnam-Veteran aus „Taxi Driver“, um die Ecke, um den Schmutz zu sehen, in seinem Taxi weiterzufahren. Apocalpyse now. Aber diesmal ist es ein anderer, ein im Krankenhaus Gestrandeter, der nicht loskommt von seinem Job als Rettungssanitäter, der darauf wartet, dass sein Vorgesetzter endlich einen Grund findet, ihn zu entlassen, der jedoch immer wieder gebraucht wird, Nacht für Nacht, von Einsatz zu Einsatz. Frank Pierce (Nicolas Cage), hetzt durch die Nacht, durch die Stadt, von einem, der kurz davor ist zu kollabieren, zu einem Angeschossenen, von Junkie zu Junkie, von einem Gewaltopfer zum nächsten. Eine Geisterfahrt in Permanenz.

    „You’re a little star struck innuendos

    Inadequacies an’ foreign bodies,

    And the sunlight shining through the crack in the window pane

    Numbs my brain,

    And the sunlight shining through the crack in the window pane

    Numbs my brain, oh Lord.“

    Pierce fährt, rast, hetzt – mit dem abgebrühten Larry (John Goodman), der seinen Realitätssinn nicht verloren hat, sich aber dennoch irgendwann krank meldet, weil er es nicht mehr erträgt und doch nicht so abgebrüht ist, wie es scheint; mit Marcus (Ving Rhames), ständig ein religiöses Wort auf den Lippen, weil er es nur mit Komik ertragen kann – und mit religiösen Erlösungsphantasien; oder mit Tom (Tom Sizemore), dem Ex-Soldaten, der sich ständig im Krieg glaubt, für den New York ein Schlachtfeld ist.

    Nur Tote hat Pierce in letzter Zeit aufgesammelt. Vor allem eine junge Frau namens Rose (Cynthia Roman), die an einer Überdosis krepiert ist. Immer wieder erscheint ihm Rose – in den Gesichtern anderer Junkies, die er aus dem Rettungswagen sieht. „Warum hast du mich nicht gerettet, Frank?“ fragt sie ihn. Frank hat keine Antwort. Er sammelt zum vierten Mal hintereinander Mr. Oh (John Heffernan) auf – voll gekotzt, besoffen, stinkend. Larry wird schlecht. Aber Frank rast zum Krankenhaus, wo Griss (Afemo Omilami) Wache steht, damit kein Unbefugter ins Innere vordringen kann. Das Krankenhaus wird zum Mittelpunkt der ganzen Tragik der Metropole.

    Auch Noel (Marc Anthony) ist dort Dauergast. Gefesselt liegt er auf einem Bett, weil er nach Dr. Hazmats (Nestor Serrano) Anweisung nichts trinken darf. In Noels Augen konzentriert sich diese ganze Tragik der Großstadt – ein Heimatloser, Streunender, Haltloser, der mit einem Baseballschläger Autos zertrümmert, der sich umbringen will, der Frank bittet, ihn ins Krankenhaus zu fahren und dort zu töten.

    Ein anderer will sterben – phantasiert Frank. Mr. Burke (Cullen O. Johnson) ist umgefallen, liegt im Koma, muss regelmäßig wiederbelebt werden. Hängt an Schläuchen. Starrt Frank in dessen Phantasie an: „Lass mich“, sagt sein Blick. „Frank, lass mich gehen.“ Seine Tochter Mary (Patricia Arquette), die jahrelang zu ihrem Vater keinen Kontakt hatte, will, dass er lebt. „Jemandem das Leben retten, ist, wie sich verlieben“, sagt Frank im permanenten Alptraum seines Lebens. Etwas fasziniert ihn an Mary. Der traurige Blick einer Ex-Junkie? Ihre tiefen Gefühle? Ihre Verzweiflung?

    Bei dem Dealer Cy (Cliff Curtis) besorgt sich Mary einen Trip. Frank will auch sie retten. Er schluckt auf Raten Cys aber ebenfalls eine Pille. Alpträume. Er zieht in seinem Trip Leute aus dem Asphalt der Straßen. Er, der Möchtegern-Erlöser, der Zeuge sein will, er, der „Putzlappen für Not und Schmutz“. Dann schleppt er Mary aus Cys Wohnung. Gerettet? Beim nächsten Einsatz – neben Tom am Steuer – zieht sich Frank die Sauerstoffmaske auf.

    „The cool room, Lord is a fool’s room.

    The cool room, Lord is a fool’s room.

    And I can almost smell your t.b. sheets

    And I can almost smell your t.b. sheets

    On your sick bed.“

    The cool room. Eine ganz Großstadt. A fool’s room. Eine ganze Großstadt. Frank will raus, aber er bleibt drin, er will weg, aber er fährt weiter zwischen Krankenhaus und nächstem Notfall.

    „Bringing Out the Dead“ ist Scorseses vierte Zusammenarbeit mit Paul Schrader nach Taxi Driver, Wie ein wilder Stier und „The Last Temptation Of Christ“. Scorsese ist „Filmhistoriker“, ob er nun wie in „Aviator“, GoodFellas oder „Gangs of New York“ Geschichte als Geschichten erzählt oder wie in „Taxi Driver“oder „Bringing Out the Dead“ die Metropole ins Zentrum seiner ihm eigenen Geschichtsschreibung stellt. Die Metropole wird zum Konzentrat amerikanischer Geschichte, in ihr sammelt sich, was ansonsten in amerikanischen Filmen kaum gezeigt wird. Und es sammelt sich als die andere Seite der Medaille – als Gegenstück zur Ideologie des Individualismus, des (vermeintlichen) Erfolgs, des Reichtums. Es sammelt sich, was „weg muss“, was „beseitigt“ gehört. Schaut man sich heute in Manhattan um, ist alles sauber. Der Besen Giulianis hat längst aufgeräumt. Nur ab und an sieht man einen des Nachts vor dem Fenster einer Bank oder eines Kaufhauses schlafen, sich an der warmen Abluft wärmend. Manhattan ist sauber, in Haarlem kann man wieder spazieren gehen! Und doch wissen alle, dass „das Problem“ nur örtlich verlagert wurde.

    „Ha, so open up the window and let me breathe.

    I said open up the window, shh shh shh shh shh and let me breathe.

    I’m looking down to the street below, Lord, I cried for you,

    Ha ha, I cried, I cried for you, ha ha. oh, Lord.“

    Scorsese zeigt die Großstadt als Ort des Infernos, des Infernos der Zivilisation, aber eben auch als Stätte, in der der Ruf nach Erlösung – in welcher Form auch immer – stets präsent ist. Ob Noel, Mr. Burke, Mary oder Frank selbst: es schreit nach Erlösung, Befreiung. Doch dieser Ruf hat kaum etwas Religiöses, Abstraktes, Fernes. Er ist konkret, Ausdruck von Hilflosigkeit oder Verzweiflung. Und damit eben auch von Hoffnung, sich in dieser Welt dennoch zurecht zu finden. Frank erlöst: er lässt Mr. Burke sterben. Wenn er am Schluss mit Mary im Licht erstrahlt – beide liegen in Marys Wohnung im Bett –, dann scheint die ganze Last dieses Lebens aus beiden zu schwinden, dann scheinen Frank die Geister zu verlassen, die ihn verfolgen. Doch diese Szene ist kaum katholisch. Denn die Hoffnung ist trügerisch. Was wird geschehen?

    Es geht (so) weiter und nicht. Frank bleibt Frank, aber ein bisschen verändert, in der Gewissheit des Sisyphos. Aber auch in der Gewissheit, dass Anklage und bitter sarkastische Kritik an diesen Zuständen, an diesen Zumutungen des Unzumutbaren und doch Realen nur eine Medaille des metropolitanen Dschungels ist. Frank wird sich aller Voraussicht nach eben nicht unterkriegen lassen.

    In „Bringing Out the Dead“ schreibt Scorsese an unserer Kultur, schreibt einen Satz gegen das Vergessen des Zusammenhangs von Gegensätzen, gegen die Isolierung von Konflikten und Problemen mittels gedanklicher Isolation und praktischer Ausgrenzung von Personen. Robert Richardsons rasante Kamerafahrten durch die Stadt, die wir nur im künstlichen Licht sehen, die fesselnde Nähe seiner Bilder verleihen dieser Intention einen Intensität, die einen an den Film im wahrsten Sinn des Wortes fesselt.

    (1) Van Morrison: T.B. Sheets, (1967), publiziert auf dem gleichnamigen Album, New York 1973.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top