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    The Tenth Man
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Tenth Man
    Von Christoph Petersen

    Alles nur wegen eines Paars Schuhe in Größe 47 mit Klettverschluss! Als der Regisseur Daniel Burman („The Mystery of Happiness“) vor einigen Jahren einen Dokumentarfilm über eine Gruppe argentinischer Juden machen wollte, die einmal jährlich eine 4.000 Kilometer lange Pilgereise zu den Gräbern von wichtigen Mystikern aus dem 17. Jahrhundert unternehmen, musste er zunächst deren Anführer von sich überzeugen: Usher ist ein faszinierender Mann, der in Once, dem jüdischen Viertel von Buenos Aires, eine Stiftung betreibt, die von der medizinischen Versorgung bis zur Lebensmittelbeschaffung den gesamten Alltag der orthodoxen Gläubigen organisiert. Nach Abschluss des Projekts („Tzadikim – Los 36 Justos“ von 2011) endete zunächst auch der Kontakt – bis Usher den Regisseur eines Tages unverhofft in New York anrief, um ihn um ein paar Schuhe zu bitten. Ein Mann im Krankenhaus stehe kurz vor einer Hirn-OP und habe keine passenden Schuhe für den Fall, dass er überlebt. Daniel Burman fühlte sich von der Anfrage geehrt und besorgte die Schuhe - allerdings ohne Klettverschluss!

    Die Anekdote mit den Schuhen hat es nun auch in den Spielfilm „The Tenth Man“ geschafft, der im Panorama der Berlinale 2016 seine Weltpremiere feierte und für den Daniel Burman selten gewährten Zugang zu der Stiftung und der jüdischen Gemeinde in Once bekam. Usher (spielt sich selbst) bittet nun seinen inzwischen in New York lebenden Sohn Ariel (Alan Sabbagh) darum, die besagten Schuhe zu beschaffen. Der bringt auch ein Paar mit, aber in den folgenden sieben Tagen wird sich der Geschäftsmann, der seinen jüdischen Glauben damals in Argentinien zurückgelassen hat, immer und immer wieder den Vorwurf anhören müssen, dass er nur Schuhe mit Schnürsenkeln dabei hatte ...

    „The Tenth Man“ ist ein Spielfilm mit sehr starken dokumentarischen Einflüssen: Zwar ist die Story komplett fiktiv und die Hauptfiguren werden von professionellen Schauspielern verkörpert, aber darüber hinaus legt Regisseur Burman – den Idealen des französischen Cinéma vérité folgend - großen Wert darauf, dass der jüdische Alltag im Hintergrund so authentisch wie möglich weiterläuft. Schon wenn Ariel das erste Mal in der Stiftung ankommt, geht es dort so wuselig zu wie auf einem Basar – jeder ist dabei, noch irgendwas für die Bewohner des Viertels zu organisieren. Ein rares Gut sind etwa gebrauchte Handys mit Restguthaben, denn der Glaube verbietet den Orthodoxen, reguläre Mobilfunkverträge abzuschließen. Ein faszinierender Einblick in eine uns ansonsten verschlossene (Parallel-)Welt.

    Aber nicht nur die beiläufigen Beobachtungen des Alltagslebens überzeugen, sondern auch die Spielfilmhandlung: Als Ariel in Once ankommt, ist sein Vater nicht da, stattdessen erteilt dieser ihm nur immer wieder neue Aufträge per Telefon. So rutscht Ariel unmerklich und zunächst wider Willen zunehmend in die Rolle des ersten Ansprechpartners und Oberorganisators hinein, die eigentlich Usher in der Gemeinde innehat. Das mag auf dem Papier nach einem arg konstruierten Plot klingen, ist aber so wunderbar subtil erzählt, dass das Publikum gemeinsam mit Ariel immer tiefer in diese unbekannte Welt abtaucht, ohne so richtig mitzubekommen, wie es sich darin verliert.

    Fazit: Eine faszinierende Leinwandfabel mit stark dokumentarischem Einschlag.

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

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