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    Schneeflöckchen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Schneeflöckchen
    Von Lars-Christian Daniels

    Stell dir vor, du findest das Drehbuch zu deinem eigenen Leben – eine ziemlich aufregende, aber auch irgendwie beängstigende Vorstellung! Du könntest zwar Wort für Wort nachschlagen, was du zu Mitmenschen gesagt hast und wüsstest auch immer, was in ein paar Minuten, Wochen oder Jahren auf dich zukommt – aber würdest du es wirklich wissen wollen? Die Hauptfiguren in der Meta-Action-Horror-Superhelden-Komödie „Schneeflöckchen“ von Adolfo Kolmerer („A Time Of Vultures“) und Co-Regisseur William James („Die Haut der Anderen“) beantworten die Frage mit einem eindeutigen „Ja“: Sie sind nämlich fest entschlossen, sich nicht einfach dem Schicksal zu ergeben, das der Drehbuchautor für sie vorgesehen hat. Was auf dem Papier nach einem reizvollen Mindfuck klingt, birgt für die Freunde der Groteske zugleich ein gewisses Kultpotenzial: „Schneeflöckchen“ zelebriert seine Meta-Ebene förmlich und wagt einen wilden Parforce-Ritt durch verschiedene Genres. Die verschachtelte Geschichte und die vielen schrägen Charaktere können aber nicht völlig darüber hinwegtäuschen, dass in dieser abgefahrenen Buch-im-Film-Konstruktion am Ende einiges Stückwerk bleibt.

    Berlin, in der nahen Zukunft: Auf den Straßen regiert die Anarchie. Ganze Häuserreihen brennen, die Supermärkte sind leergeräumt und die Aktienkurse in Europa sind bis ins Bodenlose eingebrochen. Mittendrin: Die Schmalspurganoven Tan (Erkan Acar) und Javid (Reza Brojerdi), deren Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind und die nun alles daransetzen, den Mörder zur Strecke zu bringen. Doch ihr gemeinsamer Trip ist nur ein Ausschnitt des Drehbuchs von Arend Remmers (Alexander Schubert), der die Jäger selbst zu Gejagten macht: Bei einer Schießerei in einem Dönerladen haben Tan und Javid versehentlich die Eltern der jungen Eliana (Xenia Assenza) getötet, die nun ihrerseits auf Rache sinnt und sich die Unterstützung von Bodyguard Carson (David Masterson) holt, der ihre Eltern hätte beschützen sollen. Der Zufall will es, dass Remmers‘ Drehbuch Tan und Javid in die Hände fällt: Sie suchen den nebenberuflich als Zahnarzt tätigen Autor auf und verlangen von ihm, die Geschichte zu ihren Gunsten umzuschreiben. Das hat allerdings auch Auswirkungen auf den singenden Engel „Schneeflöckchen“ (Judith Hoersch) und den Superhelden Hyper Electro Man (Mathis Landwehr), der auf den Straßen wieder für Recht und Ordnung sorgen will...

    Gleich zum Auftakt wähnt sich der Zuschauer in einer großartigen Parodie von Quentin Tarantinos vielfach zitiertem Meisterwerk „Pulp Fiction“: Waren es 1994 Vincent Vega (John Travolta) und Jules Winnfield (Samuel L. Jackson), die im Auto über den „Royal mit Käse“ philosophierten und später Big Kahuna Burger schätzen lernten, lassen sich Tan und Javid hier über die Zutaten eines miserablen Döners aus und haben kurz darauf einen stattlichen Leichenberg aufgetürmt. Diese mit köstlichem Dialogwitz gespickte und absolut kultverdächtige Eröffnungssequenz ist direkt die lustigste, aber bei weitem nicht die einzige Anspielung von Drehbuchautor Arend Remmers („Unsere Zeit ist jetzt“), der im Film von Alexander Schubert („Bullyparade – Der Film“) gespielt wird: Der Autor verweist augenzwinkernd auf Troy Duffys „Der blutige Pfad Gottes“ oder Marc Forsters „Schräger als Fiktion“, in dem Protagonist Harold Crick (Will Ferell) feststellt, eine Romanfigur zu sein. Ganz ähnlich ergeht es den zwei Hauptfiguren in „Schneeflöckchen“, denen ihre eigenen Sätze dank Rückkopplung in den Ohren klingeln: Schnell reift das Bewusstsein, dass ihr Ableben durch das Skript vorbestimmt ist und sie die Dinge nur ändern können, wenn sie Remmers zum Umschreiben zwingen.

    Dieser originelle Drehbuchkniff und die damit verbundene Öffnung der Meta-Ebene gibt der anfangs recht unübersichtlichen, weil nicht streng chronologisch erzählten Geschichte ihren Rahmen – als vermeintlich unerschöpfliche Gag-Quelle verbraucht sie sich aber recht schnell und ist auch weit weniger komplex angelegt, als es Tan und Javid den Zuschauer bei ihren Streitgesprächen glauben machen wollen: „Alter, das fickt meinen Kopf!“ Vielmehr ist „Schneeflöckchen“ mit seinen stolzen 120 Minuten eine ganze Ecke zu lang geraten: Besonders im Mittelteil schleichen sich erhebliche Längen in die nur anfangs in kurze Kapitel unterteilte Handlung ein, über die auch die dynamische Inszenierung und der kraftvolle Soundtrack nicht hinwegtäuschen können. Bei Kannibalismus, Kopfschuss & Co. hält Kameramann Konstantin Freyer („Das letzte Mahl“) indes nur selten voll drauf: Wer sich auf eine blutige Schlachtplatte mit hohem Body Count gefreut hat, sitzt hier im falschen Film. Am nur in Nachrichtensendungen bebilderten und ansonsten kaum spürbaren Endzeitszenario auf den Straßen Berlins zeigt sich hingegen das knappe Budget des Films – gedreht wurde vor allem in schmutzigen Fabrikhallen oder in tristen Hinterhöfen, was der düsteren Atmosphäre dienlich ist und die Produktionskosten praktischerweise im Rahmen hält.

    So mancher Zuschauer mag sich bei „Schneeflöckchen“ auch vorkommen wie auf einer selbstironisch angehauchten Zeitreise in die deutsche TV-Geschichte der 90er Jahre, wenn sich Serienhelden früherer Tage regelrecht die Klinke in die Hand geben: Neben Gedeon Burkhard („Kommissar Rex“ von 1995 bis 2001), Bruno Eyron („Balko“ von 1998 bis 2006) und Sven Martinek („Der Clown“ von 1998 bis 2001) ist auch der spätere (und vom NDR leider viel zu früh geschasste) „Tatort“-Kommissar Mehmet Kurtulus mit von der Partie. Nennenswerten Eindruck hinterlässt aber keiner von ihnen – dazu liegt der Fokus zu sehr auf Racheengel Eliana (Xenia Assenza, „Tschick“) und den zwei Hauptfiguren Tan (Erkan Acar, „The Key“) und Javid (Reza Brojerdi, „Homeland“), die man schnell ins Herz schließt und denen man beim Kampf gegen den eigentlichen Star des Films – das Drehbuch – die Daumen drückt. „Ich habe ein komplett neues Ende geschrieben, und das ist wirklich sehr, sehr gut“, prahlt Autor Remmers vor dem actiongeladenen Showdown – und doch dürfte es „Schneeflöckchen“ schwer haben, als wilder Genremix ein größeres Publikum zu begeistern: Für einen verstörenden Horrorfilm ist der Film letztlich zu harmlos, für eine bodenständige Low-Budget-Komödie wirkt er zu abgehoben und für einen Mindfuck mit Diskussionsgarantie ist er am Ende doch nicht komplex genug.

    Fazit: Adolfo Kolmerers Langfilmdebüt „Schneeflöckchen“ ist ein innovativer und mit vielen guten Ideen gespickter Beitrag zum oftmals totgesagten deutschen Genrekino, der unter dem Strich aber eine ganze Ecke zu lang geraten und nicht frei von Drehbuchschwächen ist.

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