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    Ballon
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ballon
    Von Carsten Baumgardt

    Was tun, wenn man in seinem Metier alles erreicht hat? Wenn man mit seinen sieben Filmen in Deutschland sensationelle 32 Millionen Menschen in die Kinos gelockt und mit „Der Schuh des Manitu“ einen der erfolgreichsten Filme der deutschen Nachkriegsgeschichte geschaffen hat? Nach einem nostalgisch gefärbten Comeback mit „Bullyparade – Der Film“ geht Michael „Bully“ Herbig mit „Ballon“ erstmals in seiner Regiekarriere komplett neue Wege und inszeniert ein historisches, auf Spannung getrimmtes Thriller-Drama über die wohl spektakulärste DDR-Flucht der Geschichte. Dabei ist „Ballon“ weniger ein ausgefeiltes Psychogramm zweier Familien, die alles auf eine Karte und ihr Leben aufs Spiel setzen, um den Arbeiter-und-Bauernstaat zu verlassen, sondern ein packender, sich eng an wahren Begebenheiten orientierender Fluchtfilm vor historischem und emotional enorm aufgeladenem Hintergrund.

    Im Sommer 1979 planen zwei Familien aus Thüringen, der DDR illegal den Rücken zu kehren und nach West-Deutschland zu fliehen. Doch nur Peter (Friedrich Mücke) und Doris Strelzyk (Karoline Schuch) wagen tatsächlich die Flucht, ihre Freunde Günter (David Kross) und Petra Wetzel (Alicia von Rittberg) bekommen kurz vor dem Start kalte Füße. Aber die Strelzyks packen die Kinder ein und steigen eines Nachts, als der Wind günstig steht, in einen selbstgebauten Heißluftballon, der sie knapp 20 Kilometer weiter über die Landesgrenze in den Westen bringen soll. Doch der Fluchtversuch scheitert, weil der Familie der Treibstoff ausgeht. Sie haben Glück im Unglück: Niemand verletzt sich bei dem Absturz ernsthaft, doch die Spuren, die sie hinterlassen, rufen Stasi-Oberstleutnant Seidel (Thomas Kretschmann) und sein Gefolge auf den Plan. Während die Stasi ihnen immer näher kommt, arbeiten die Strelzyks und Wetzels fieberhaft an einem neuen Ballon, um einen zweiten Fluchtversuch zu wagen…

    Nachdem Michael „Bully“ Herbig 2009 mit „Wickie und die starken Männer“ einen weiteren Megahit gelandet hatte (4,9 Millionen Besucher in Deutschland), überließ er zwei Jahre später die kommerziell logische Fortsetzung „Wickie auf großer Fahrt“ (1,8 Millionen Besucher) lieber seinem Kollegen Christian Ditter („How To Be Single“) und drehte stattdessen als Hauptdarsteller für Leander Haußmann die historische Verwechslungskomödie „Hotel Lux“ und für Helmut Dietl die satirische „Kir Royal“-Kinofortsetzung „Zettl“. Doch die Zuschauer blieben bei diesen deutschen Produktionen ebenso weg wie bei Herbigs Hollywood-Ausflug als Zauberer in „Der unglaubliche Burt Wonderstone“ (an der Seite von Steve Carrell und Jim Carrey).

    Doch schon seit Jahren schwelte in Herbig der Wunsch, etwas außerhalb der Comedy-Blase zu inszenieren. Die Geschichte der geflüchteten Familien Strelzyk und Wetzel, die 1979 weltberühmt wurden und in den Medien Schlagzeilen machten, ließ den Filmemacher nicht mehr los. Bis allerdings alle hochkomplizierten Rechteprobleme gelöst waren, vergingen Jahren. Die Familien hatten ihre Lebensgeschichte an Disney verkauft, weshalb der Stoff mit Schauspielern wie John Hurt, Jane Alexander und Beau Bridges bereits als „Mit dem Wind nach Westen“ verfilmt wurde. Allerdings lockte die Verfilmung 1982 nur schwache 233.000 Zuschauer in die deutschen Kinos.

    Bullys „Ballon“ ist frei von komödiantischen Anflügen (außer in der letzten Szene, die tatsächlich einen knochentrockenen Witz enthält) oder sonstigen Bezügen ins Bully-Universum. Herbig macht ernst - und das glücklicherweise mit aller Konsequenz. Aus dem Schauspiel hält sich der Münchener auch komplett raus und überlässt den Jüngeren das Feld (obwohl David Kross als Günter Wetzel dem Bully-Look schon nahe kommt, aber vom Alter her wesentlich besser passt). Das DDR-Setting des Jahres 1979 ist authentisch nachgestellt und leinwandfüllende Kinobilder hat Herbig auch schon in seinen Comedy-Filmen immer wieder aufblitzen lassen. So ergibt sich ein stimmiger Mix aus emotional griffiger Geschichte, bei der man sofort mit den beiden Familien mitfiebert, und zeitgeschichtlichem Kino, das eine untergegangene Epoche der deutschen Historie filmisch wieder auferstehen lässt.

    Dabei ist Herbig immer an einer straffen Dynamik gelegen, er hält das Erzähltempo hoch und steigt gleich mit einem ersten Fluchtversuch ein, ohne die akribische Vorbereitung zu zeigen – das holt er dann teilweise beim nächsten Ballon-Anlauf nach, während auf der zweiten Erzählebene die Hatz auf die Fahnenflüchtigen auf Hochtouren läuft. Während der von Ronald Kukulies („Weinberg“) ungehobelt-jovial gespielte Stasi-Nachbar Erik Baumann als ständige unterschwellige Bedrohung im Umfeld der Familien rumschnüffelt, ohne etwas zu ahnen, ist Thomas Kretschmann („King Kong“) als ermittelnder Oberstleutnant Seidel der dramaturgische Gegenpol. Er lässt nicht locker, bevor die Verdächtigen gefasst sind, weil der Staat es so verlangt. Aber Kretschmann spielt den Stasi-Kettenhund nicht als tumben, hasserfüllten Hetzer, sondern differenziert mit kleinen Brüchen, in denen der intelligente Jäger manchmal das System leise hinterfragt, ohne deshalb wirklich von seiner Aufgabe abzulassen. Diese Durchlässigkeit der Betonköpfe macht „Ballon“ erzählerisch noch stimmiger.

    Die verschworene Heldengruppe um Friedrich Mücke („Friendship!“), Karoline Schuch („Ich bin dann mal weg), David Kross („Gefährten“) und Alicia von Rittberg („Herz aus Stahl“) sammelt die Sympathien mühelos ein. Warum die Flüchtigen aber dieses enorme Risiko eingehen und mit einem provisorischen Heißluftballon fast 2.000 Meter aufsteigen und dabei teils kleine Kinder an Bord haben, wird nicht substanziell hinterfragt. Herbig setzt stattdessen auf einen klassischen Spannungsbogen und zieht die Schlinge immer fester zu, wobei er es mit den dramatischen Zuspitzungen aber manchmal auch übertreibt. Dann verzettelt er sich in inszenatorischen Mätzchen. So schneidet er Szenen bewusst widersprüchlich zusammen, um eine mögliche Enttarnung der Verdächtigen in allerletzter Sekunde als falsche Fährte zu offenbaren. Das hat etwas von Jump Scares, die man normalerweise im Horrorgenre benutzt und die einen zwar erschrecken, aber im Grunde substanzlos sind. Hat man dieses manipulative Mittel durchschaut, fehlt beim nächsten Auftreten dieses Musters der Kick, weil der Bauerntrick längst aufgeflogen ist.

    Fazit: Bully macht keine Anstalten, Bully zu sein! Michael Herbigs Debüt im Thrillerfach hebt sich konsequent von seinen bisherigen Comedy-Arbeiten ab. „Ballon“ ist eine – trotz bekannten Ausgangs – spannende Familiengeschichte vor der wohl außergewöhnlichsten Flucht aus der DDR.

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