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    Staying Vertical
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Staying Vertical
    Von Christoph Petersen

    Nach seinem reduziert-klaustrophobischen Psychothriller „Der Fremde am See“ (als wenn Alfred Hitchcock einen Film mit schwulem Hardcore-Sex gedreht hätte) lässt Regisseur Alain Guiraudie seiner absurden Fantasie diesmal völlig freien Lauf: Sein Cannes-Wettbewerbsbeitrag „Staying Vertical“ mag noch ganz bodenständig beginnen, wenn der wohnungslose Drehbuchautor Léo (Damien Bonnard) auf der Suche nach Wölfen und Inspiration im Süden Frankreichs die alleinerziehende Schäferin Marie (India Hair) schwängert. Aber nach der Geburt (typisch Guiraudie: in Nahaufnahme voll draufgehalten, Kot, Blut und Schleim inklusive) zieht Marie mit einer postnatalen Depression in die Stadt und lässt Léo mit Baby und Schwiegervater Jean-Louis (Raphaël Thierry) auf dem Hof sitzen - und damit driftet das Drama immer mehr in eine mystische Traumwelt: Léo sucht Hilfe bei der Heilerin Mirande (Laure Calme), die ihn in ihrer Baumhütte mit Wurzeln verkabelt als würde sie ihn an einen EKG-Monitor anschließen, während der knorrige Jean-Louis seinen Baby-Enkel als Köder für eine Wolfsmeute missbraucht, die gerade seine ganze Schafsherde gerissen hat…

    Leidet Léo nun an einer Midlife-Crisis, seiner verdrängten Homosexualität, einer Schreibblockade oder der Bürde / den Freuden seiner Vaterschaft? Es bieten sich eine Menge Interpretationsmöglichkeiten für die immer surrealer werdenden Geschehnisse an, aber letztendlich bleibt „Staying Vertical“ ein mythologisches Märchen mit etlichen suggestiven, zeitgeistigen Andeutungen (der Film ließe sich etwa als Kommentar zum Adoptionsrecht von Homosexuellen lesen), aber ohne offensichtliche Moral. Es bleibt ein (alb-)traumartiger Trip, der zwar über weite Strecken fasziniert, aber dabei auch ein wenig beliebig wirkt. Stärker als der Film als Ganzes sind einige Einzelszenen, die das Publikum lange nicht mehr aus dem Kopf bekommen wird: Neben dem puren Schockeffekt der Ganz-nah-dran-Geburt gilt das  vor allem für eine explizite schwule Sexszene, in der Léo zur Musik von Pink Floyd einem alten Mann mittels Analsex Sterbehilfe leistet – ein zugleich tief verstörender, aber auch wunderbar zärtlicher Kinomoment.

    Fazit: Ein surreales Märchen über Wölfe und Schafe, Männer ohne Frauen, Männer mit Babys und Männer unter Männern – Charlie Kaufman („Adaption.“) trifft Bruce LaBruce („Geron“)!

    Wir haben „Staying Vertical“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.

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