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    Tatort: Rebecca
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tatort: Rebecca
    Von Lars-Christian Daniels

    Was waren das für aufregende „Tatort“-Wochen zum Jahreswechesel 2015/2016: Erst das vieldiskutierte Wiesbadener Film-im-Film-Experiment „Tatort: Wer bin ich?“, das vom Feuilleton gefeiert und von vielen Zuschauern abgelehnt wurde, dann der Auftritt von Schlagerqueen Helene Fischer im Hamburger „Tatort: Der große Schmerz“ und zuletzt das Actionfeuerwerk „Tatort: Fegefeuer“, dessen Erstausstrahlung Hauptdarsteller Til Schweiger („Honig im Kopf“) auf seiner Facebook-Seite zu einer Lobeshymne auf Regisseur Christian Alvart und einen selbstverliebten Rundumschlag gegen die „Tatort“-Kollegen aus Köln und München veranlasste. Zeit, mal wieder etwas durchzupusten, und da könnte ein Krimi vom Bodensee genau das Richtige sein: Die „Tatort“-Folgen aus Konstanz zählen zu den unaufgeregtesten der öffentlich-rechtlichen Reihe, und da die Hauptkommissare Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) ohnehin nur noch zweimal im Einsatz sind, ist auch keine Kurskorrektur mehr zu erwarten. Ihr somit vorletzter Auftritt in Umut Dags „Tatort: Rebecca“ erweist sich allerdings als einer ihrer stärksten Fälle: Der Filmemacher inszeniert ein beklemmendes und kraftvolles Krimidrama, in dem die junge Gro Swantje Kohlhof als titelgebende Hauptfigur groß aufspielt.

    Die 17-jährige Rebecca Fischer (Gro Swantje Kohlhof) wird völlig verstört neben einer brennenden Leiche aufgefunden. Bei dem Toten handelt es sich um Olaf Reuter, der das Mädchen im Alter von zwei Jahren entführt, in seinem Keller gefangen gehalten und pseudoreligiös zu einer auf ihn fixierten Fanatikerin erzogen hat. Für die Psychologin Dr. Schattenberg (Imogen Kogge) ist Rebecca ebenso wenig ansprechbar wie für Hauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes). Doch als das Mädchen bei einem missglückten Annäherungsversuch die Flucht ergreift, läuft sie Blums Kollegen Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) in die Arme – und sieht in ihm plötzlich ihren neuen „Erzieher“. Ihm gegenüber ist Rebecca bereit, über ihre fünfzehnjährige Gefangenschaft zu reden. Eine entscheidende Frage beantwortet sie allerdings nicht: Wo steckt die zweite Gefangene, von der man Spuren im Haus des Toten gefunden hat? Die Ermittler vernehmen Reuters Geschäftspartner Kolb (Serge Falck), seinen Vater Helmut (Klaus Manchen) und Rebeccas Mutter Katja Fischer (Sandra Borgmann) – und sie müssen bald feststellen, dass Rebecca ihre einzige Hoffnung ist, das zweite Mädchen zu finden ...

    Im 971. „Tatort“ bietet sich den Zuschauern zunächst ein bizarres Bild: Die junge Rebecca läuft aus dem Haus, erblickt Perlmann auf der Straße, fällt plötzlich vor ihm auf die Knie – und erwartet die Anweisungen des verdutzten Kommissars. „Setz dich! Iss was!“ – was der Ermittler dem Mädchen auch immer befiehlt, wird von diesem umgehend ausgeführt: Drehbuchautor Marco Wiersch („Der Fall Barschel“) hat eine mutige, anfangs etwas irritierende Geschichte ersonnen. Die Parallelen zum realen Schreckensfall Natascha Kampusch, den Sherry Hormann 2013 in ihrem Entführungsdrama „3096 Tage“ bereits aufarbeitete, sind greifbar, aber hier werden entscheidende eigene Akzente gesetzt. Während Kampuschs Entführer sich selbst tötete, nachdem sie entkommen konnte, richtet die „Tatort“-Protagonistin ihren Peiniger einleitend selbst: Weil die Kamera das Verbrennungsritual einfängt, steht Rebecca von Beginn an als minderjährige (und kaum zurechnungsfähige) Täterin fest.

    Dass der Film trotzdem als Whodunit-Abwandlung funktioniert, liegt an der fieberhaften Suche nach dem zweiten Kind: Das Schicksal des verschwundenen Mädchens, das offenbar über mehrere Monate mit Rebecca in dem Verlies gehaust hat, ist die Antriebsfeder der Ermittlungen, die sich zu einem Wettlauf gegen die Zeit entwickeln. Weil die Zahl der Nebenfiguren überschaubar bleibt, ist die Auflösung des Rätsels zwar keine große Überraschung – dafür hat der Film aber andere Stärken, zu denen vor allem die herausragende Hauptdarstellerin zählt. Die 21-jährige Gro Swantje Kohlhof („Tore tanzt“) brillierte bereits 2015 im Bremer „Tatort: Die Wiederkehr“, in dem sie die Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) als jugendliche Ausreißerin zum Narren hielt – und mit ihrer erstklassigen Darbietung dürfte sich die Jungschauspielerin erneut in die Notizblöcke vieler Filmproduzenten spielen. Kohlhof meistert ihre vielschichtige Hauptrolle als verstörtes und verstörendes Entführungsopfer mit Bravour, und es ist auch ihrem versierten Spiel zu verdanken, dass das sofortige Ausführen aller Perlmann-Befehle nie in unfreiwillige Komik abdriftet.

    Der österreichische Regisseur Umut Dag („Kuma“, „Risse im Beton“) tastet sich behutsam an die traumatisierte Hauptfigur heran, ohne die beklemmende Geschichte ihrer Gefangenschaft voyeuristisch auszuschlachten. Oft reichen schon wenige Worte der jungen Frau, um das Grauen im Kopf des Zuschauers lebendig werden zu lassen. Sebastian Bezzel („Dampfnudelblues“) gibt als Rebeccas neuer Vertrauter und „Erzieher“ wider Willen den ruhenden Gegenpol, während seine „Tatort“-Partnerin Eva Mattes („Woyzeck“) diesmal in einigen aufbrausenden Momenten gefragt ist. Besonders bemerkenswert: Gegenüber Perlmann lässt sich die sonst so besonnen agierende Hauptkommissarin Blum, die so gut wie nie ihre Dienstwaffe zückt, sogar zu einer schallenden Ohrfeige hinreißen. Ansonsten bleibt Unerwartetes aber Mangelware: Die unnahbare Psychologin Dr. Schattenberg (Imogen Kogge, „Requiem“) reibt sich erwartungsgemäß in Machtkämpfen auf – und grätscht den Kommissaren natürlich immer just in dem Moment dazwischen, wenn diese kurz davor stehen, Rebecca Informationen zum Verbleib des zweiten Mädchens zu entlocken.

    Fazit: Umut Dags „Tatort: Rebecca“ ist ein beklemmendes Krimidrama, in dem Jungschauspielerin Gro Swantje Kohlhof ein eindrucksvolles Bewerbungsschreiben für weitere Hauptrollen abgibt.

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