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    Tatort: Totenstille
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Tatort: Totenstille
    Von Lars-Christian Daniels

    Wenn die gehörlose Bloggerin Julia Probst ein Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft anschaut, wird mitunter sogar der sonst so souveräne Bundestrainer Joachim Löw nervös: Probst liest den Spielern und Trainern während der Partie nämlich von den Lippen ab, was die Außenmikrofone im Stadion nicht einfangen – und twittert es seit der WM 2010 an über 32.000 interessierte Follower. Nicht jede der unter Anspannung getätigten Aussagen auf dem Rasen oder am Spielfeldrand ist für die Öffentlichkeit bestimmt, und so ist auch bei anderen Gelegenheiten immer häufiger zu beobachten, wie sich die unter Beobachtung stehenden Akteure beim Reden eine Hand vor den Mund halten. Im neuen „Tatort“ aus Saarbrücken, zu dem die Bloggerin gemeinsam mit Grimme-Preisträger Peter Probst („Die Hebamme – Auf Leben und Tod“) das Drehbuch beisteuert, agiert ein Straftäter weniger vorsichtig, und das wird ihm schon bald zum Verhängnis. Unter der Regie von Zoltan Spirandelli („Die Salzprinzessin“) ermitteln die Kommissare in der Welt der Gehörlosen – ein durchaus mutiger und interessanter Ansatz, der allerdings in einen über weite Strecken zähen und spannungsarmen Krimi mündet.

    Nach der Beerdigung des Leiters einer Gehörlosenschule wechseln die Trauergäste zum Leichenschmaus in ein nahegelegenes Hotel. Dort hat ein Stockwerk höher der verheiratete Bauingenieur Georg Weilhammer (Martin Geuer) Sex mit seiner Geliebten: Die vorherige Einnahme von Amphetaminen führt bei ihr zu plötzlichem Herzversagen. Der geschockte Familienvater, dessen Frau Susanne (Nina-Mercedés Rühl) nichts von seiner Affäre ahnt, beseitigt die Leiche kurzerhand in der Saar und tätigt in seinem Auto einen folgenschweren Anruf: Der zufällig in der Nähe stehende gehörlose Trauergast Ben Lehner (Benjamin Piwko) liest den Inhalt des Gesprächs von seinen Lippen ab. Prompt fordert er von Weilhammer 10.000 Euro für sein Schweigen. Gemeinsam mit seiner ebenfalls gehörlosen Freundin Ambra Reichert (Ressica Jaksa), der Tochter des verstorbenen Schulleiters, fährt Ben in ein abgeschiedenes Wochenendhaus und arrangiert die Geldübergabe – und findet Ambra kurz danach tot vor dem Haus. Die Hauptkommissare Jens Stellbrink (Devid Striesow) und Lisa Marx (Elisabeth Brück) übernehmen die Ermittlungen und tauchen in eine Welt ein, die ihnen bis dato fremd war ...

    Taubstumm sagt man nicht. Das ist genauso diskriminierend wie Zigeuner oder Neger“, verbessert die neue Kommissaranwärterin Mia Emmrich (Sandra Maren Schneider) den verdutzten Stellbrink schon beim ersten gemeinsamen Außeneinsatz – und überhaupt ist das Bemühen der Filmemacher, mit Vorurteilen aufzuräumen und dem Publikum die alltäglichen Herausforderungen für gehörlose Menschen näherzubringen, von Beginn an spürbar. Neben den politisch korrekten Termini lernen wir auch Folgendes: Taubsein ist relativ, die Gebärdensprache erst seit 2002 offiziell anerkannt und auch Gehörlose schwingen gern mal zum wummernden Hip-Hop-Beat von Missy Elliotts „She’s A Bitch“ die Hüften. Deutlich weniger dynamisch gestaltet sich der Einsatz von Dolmetscherin Kaiser (Mira-Esther Weischet): Viele der ohnehin schon hölzernen Verhöre und Befragungen werden durch das regelmäßige Übersetzen der Gebärden auf die doppelte Länge gestreckt – da kann Stellbrink nach Feierabend noch so wissbegierig Video-Tutorials im Netz studieren und das Erlernte mit Spurensicherungsleiter Horst Jordan (Hartmut Volle) im Büro-Alltag anwenden.

    Wenn sich der rollerfahrende Hauptkommissar schließlich in einer verunglückten Szene mit schalldichten Kopfhörern auf den Weg ins Präsidium macht, um die Wahrnehmung gehörloser Menschen besser nachempfinden zu können, wird der fünfte „Tatort“ aus Saarbrücken vorübergehend zur seichten Klamotte – eine Tendenz, die schon den ersten beiden Fällen „Tatort: Melinda“ und „Tatort: Eine Handvoll Paradies“ vernichtende Kritiken bescherte. Dabei überzeugt der Krimi handwerklich durchaus: „Auch Hörende haben eine Behinderung – sie können nicht Lippenlesen“, schrieb Co-Autorin Julia Probst kürzlich auf ihrem Blog, und diese erzählerische Herausforderung bewältigt Regisseur Zoltan Spirandelli mühelos. Sätze in Gebärdensprache werden verbal wieder aufgegriffen, beim wortlosen und doch hochemotionalen Streitgespräch eines gehörlosen Liebespaares schweben Untertitel durchs Bild – und wenn dem Zuschauer der genaue Wortlaut doch mal entgehen sollte, wird dank eindeutiger Gesten zumindest die Kernaussage deutlich. Und als das Geschehen in einer Szene aus der Perspektive eines Gehörlosen erzählt wird, setzt plötzlich der Ton aus – leider wird diese gute Idee schnell wieder fallen gelassen.

    Als filmischer Beitrag zur Inklusion und Aufklärung  ist der „Tatort: Totenstille“ aller Ehren wert, doch die Figurenzeichnung und die Krimispannung vernachlässigen die Filmemacher dabei sträflich. Fremdenlegion-Rückkehrer Marc Reichert (Franz Hartwig) wirkt als „Bad Guy“ mit gelegentlichen Klaus Kinski-Anleihen schon beim einleitenden Auftritt auf der Beerdigung seines Vaters überzeichnet, andere Nebenrollen sind wenig überzeugend besetzt. Zur zunehmend auftauenden Staatsanwältin Nicole Dubois (Sandra Steinbach) hingegen, die wie schon im vorigen Saarbrücker „Tatort: Weihnachtsgeld“ kaum mehr als drei Sätze sprechen darf, scheint den Verantwortlichen momentan noch weniger einzufallen als zu Hauptkommissarin Marx, über deren Privatleben auch weiterhin nichts bekannt wird. Ganz anders Stellbrink: Der stößt mit dem verdächtigen Ben Lehner (ein Lichtblick: der gehörlose Kung-Fu-Trainer Benjamin Piwko) nach Feierabend auf der Parkbank an und knutscht bei einer Spontanparty mit der kessen Bikerin Kassandra (Kassandra Wedel). Momente wie diese sind für sich genommen ganz nett, aber sie lenken vom Mordfall ab und so wird der 972. „Tatort“ trotz guter Ansätze zu einem der spannungsärmeren Vertreter der Krimireihe.

    Fazit: Zoltan Spirandelli bringt dem Zuschauer mit seinem durchaus interessanten „Tatort: Totenstille“ den Alltag gehörloser Menschen näher – das Geschichtenerzählen und die Krimispannung bleiben dabei allerdings auf der Strecke.

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