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    I wie Ikarus
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    I wie Ikarus
    Von Robert Cherkowski

    Für die Autoren der Nouvelle Vague und der Cahiers du cinéma war der französisch-algerische Regisseur Henri Verneuil stets ein Schmuddelkind, da er sich der leichten Muse verpflichtet fühlte. Wo Melville amerikanisches Genre-Kino mit existenzialistischer Schwere belud, Godard vom Tod und Truffaut von der Neugeburt des Kinos unter neuen Vorzeichen träumten, verschrieb sich Verneuil den Tugenden klassischen Erzählkinos und der intelligenten Unterhaltung seines Publikums. Innovationen waren seine Sache dabei nie, wohl aber die liebevolle und verspielte Variation bekannter filmischer Bausätze, die an Spannungsschrauben drehte und fingerfertig auf der Klaviatur der Gefühle spielte. Sein großartiger Politthriller „I wie Ikarus" von 1979 allerdings brauchte ein paar Jahrzehnte, bis man ihm den wohlverdienten Klassikerstatus zugestand. Der handwerklich perfekte Verschwörungskrimi ist Kino vom Allerfeinsten.

    Bei einem minutiös geplanten Attentat wird der Staatspräsident Jarry von einem Scharfschützen ermordet. Als Sündenbock muss der labile Sonderling Daslow (Didier Sauvegrain) herhalten, der von seinen Mitverschwörern ermordet und zurückgelassen wird. Dennoch bleibt der ermittelnde Generalstaatsanwalt Volney (Yves Montand) skeptisch, und ein zufällig mitgeschnittener Film von der Ermordung Jarrys verdichtet seinen Verdacht ebenso wie die Tötungen von Zeugen, die in diesem Film zu sehen sind. Bald schon watet er durch einen Sumpf aus Drohungen, Falschaussagen und Repressalien, während er sich langsam aber sicher einem Netzwerk aus organisierter Kriminalität, militärisch-industrieller Zweckbündnisse und Geheimdiensten nähert. Diese Nähe jedoch kann lebensgefährlich sein.

    Auf die Hippie-Kultur der 1960er-Jahre folgte ein Jahrzehnt später die Ernüchterung: Vom Putsch in Chile, dem Watergate-Skandal, Terrorismus und imperialistischen wie sozialistischen Stellvertreterkriegern desillusioniert, schlug die Sternstunde des politisch links orientierten Paranoia-Thrillers. In Europa vertraten vor allem italienische Politfilmer wie Francesco Rosi („Die Macht und ihr Preis") oder Elio Petri („Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger") das Genre, doch mit „I wie Ikarus" zog Vernauil nach und lieferte einen Attentatskrimi ab, der sich recht offensichtlich an die Kennedy-Ermordung anlehnt.

    Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Volneys Suche nach der Wahrheit und auf der Angst, die im eigenen Volk verbreitet wird. Elegant und niemals in der selbstverliebten, unnötigen Konfusion verirrt, die gerade in heutigen Zeiten gerne mit Komplexität verwechselt wird, besticht Verneuils Fähigkeit, seine wichtige Geschichte federleicht, klar und geradlinig zu erzählen. Das Herz des Films ist zweifellos die detailgenaue Schilderung des sogenannten Milgram-Experiments. Mit einfachen Mitteln wird anhand des seltsamen, mit Folter durchsetzten Experiments deutlich gemacht, mit welcher Berechnung ein Mensch zum skrupellosen Handlanger umerzogen werden kann. In Momenten wie diesen nimmt Verneuil die Strukturen und Gedanken des modernen Terrorismus vorweg. Indoktrination und Abrichtung schaffen Mörder.

    Dass die kalte und bedrohliche Atmosphäre, die „I wie Ikarus" durchzieht, niemals einem menschenfeindlichen Pessimismus ähnelt, ist vor allem der darstellerischen Leistung Yves Montands zu verdanken, der seinen Generalstaatsanwalt als einen leicht zugeknöpften, doch ergebenen Diener der Wahrheit und Humanisten in Zivil zeichnet. Ein wenig wirkt er dabei durchaus wie der genial-dröge deutsche Fernsehkriminalist „Derrick". Erst in der letzten Szene des Films, in der er endlich die Puzzleteile des Komplotts zusammenfügen kann und, erschöpft von der Arbeit, die harte Schale ablegt und sich in einem Telefongespräch mit seiner Frau als charmanter und liebenswerter Gatte zeigt, sieht man, welch sympathischer Held hier eigentlich am Werke war. Wenige Sekunden später wird ihm auch das letzte Puzzle-Teil der „Operation Ikarus" gewahr und einer der besten französischen Filme der 70er endet mit wohlplatzierter und mit eiserner Konsequenz gesetzter Wucht.

    Fazit: Henri Verneuils brillanter Verschwörungsthriller ist ein wahrer Filmgenuss für Freunde anspruchsvoller Genre-Kost. Wenige Paranoia-Thriller verbinden derart schlüssig und effektiv eine politische Aussage mit packender Unterhaltung und großem Schauspiel – ein Meisterwerk.

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