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    Young Ahmed
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Young Ahmed

    Muslim On A Mission

    Von Christoph Petersen

    Der 68-jährige Jean-Pierre Dardenne und sein drei Jahre jüngerer Bruder Luc Dardenne zählen seit den Neunzigern zu den absoluten Stars des europäischen Arthouse-Kinos. Zudem gehören sie dem erlauchten Kreis von Filmemachern an, die beim Filmfestival in Cannes nicht nur einmal, sondern sogar gleich zwei Mal mit der Goldene Palme ausgezeichnet wurden (nämlich 1999 für „Rosetta“ und 2005 für „Das Kind“). Aber nachdem zuletzt schon ihr Krimi-Drama „Das unbekannte Mädchen“ nur noch solides Mittelmaß erreichte, haben sie mit ihrem neuen Film „Young Ahmed“ nun erstmals in ihrer langen, erfolgreichen Karriere so richtig danebengegriffen. Und das liegt vor allem an der Zeichnung der jugendlichen Titelfigur, die am Ende weniger wie ein radikaler Extremist als vielmehr wie ein junger Hannibal Lecter anmutet.

    Noch vor einem Monat war Ahmed (Idir Ben Addi) ein ganz normaler belgischer Teenager. Aber nach dem Märtyrertod seines Cousins hat sich der 13-Jährige in Rekordzeit radikalisiert. Er achtet peinlich genau auf die Gebetszeiten, gibt Frauen nicht mehr die Hand und will seiner eigenen Mutter (Claire Bodson) den Alkohol verbieten. Als Ahmeds Lehrerin Inès (Myriem Akheddiou) einen Alltags-Arabisch-Kurs an der Schule anbieten will, erklärt der hasspredigende örtliche Iman Youssouf (Othmane Moumen) sie zur Ungläubigen. Ahmed versteht das als Aufforderung zum Handeln und attackiert sie mit einem Messer. Als Folge landet er in einer streng überwachten Jugendeinrichtung, wo sich Sozialarbeiter und Psychologen um ihn kümmern. Aber Ahmed lässt sich von seiner Mission nicht abbringen…

    Bald wird Ahmed (Idir Ben Addi) auf seine Lehrerin (Myriem Akheddiou) losgehen.

    Die Dardennes sind mit ihrem Extremismus-Drama ganz schön spät dran. Schließlich haben wir in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten Dutzende, wenn nicht gar Hunderte ganz ähnlicher Filme gesehen. Aber hey, es sind die Dardennes, da ist man natürlich trotzdem neugierig. Doch die Hoffnung hält nicht lange an: Schon das ständige, exotisierende Ausstellen der vorgebetlichen Waschungen wirkt überholt, da ist das Weltkino längst ein ganzes Stück weiter. Aber auch wenn die Dardennes für den Weg in den Extremismus ausschließlich bekannte Bilder und Situationen reproduzieren, macht zumindest die Besetzung der Titelrolle die Sache spannend: Idir Ben Addi wirkt nämlich so gar nicht wie die pubertär-wütenden Jugendlichen, die man sonst meist in Filmen dieser Art sieht, sondern wie ein schüchterner, höflicher Bücherwurm, vor dem man nun wirklich keine Angst haben würde.

    Obwohl man zu diesem Zeitpunkt schon weiß, was Ahmed vorhat, lässt dieses zurückgenommene Auftreten die plötzliche Attacke auf die Lehrerin umso verstörender erscheinen. Aber mit der Einlieferung in die Jugendanstalt entgleitet dem Regie-Duo zunehmend ihre Hauptfigur. Sie selbst schreiben in einem vorab veröffentlichten Directors‘ Statement, dass sie beim Beginn des Schreibens selbst nicht damit gerechnet hätten, was für ein rätselhafter, undurchschaubarer Charakter Ahmed werden würde. Aber das ist eine totale Untertreibung: Wenn Ahmed mit seiner höflichen Art alle seine Betreuer und Richter hinters Licht führt und selbst dann noch die absolute Ruhe bewahrt, wenn mal ein Teil seines Plans nicht aufgeht, dann ist das nicht rätselhaft, sondern geradeheraus psychopathisch. Ahmed wirkt weniger wie ein radikalisierter muslimischer Extremist, sondern eher wie der Bösewicht aus einem Satanskind-Horrorfilm wie „Das Omen“.

    Feiger Ausweg

    Das ist ganz sicher nicht politisch korrekt, aber durch Provokation (und sei sie unbeabsichtigt) lassen sich ja mitunter auch Diskussionen anstoßen. Zehn Minuten vor Schluss war ich jedenfalls gleichermaßen wütend, verwirrt, verstört. Keine positiven Gefühle, aber sie würden einen zumindest dazu zwingen, sich gegenüber dem Film zu positionieren, sie würden eine unmittelbare Reaktion provozieren. Und ich kann nicht mal mit Sicherheit sagen, wie genau diese denn nun ausgesehen hätte. Einfach nur abgestoßen oder womöglich sogar fasziniert? Aber anstatt sie ihren mindestens fragwürdigen Weg wenigstens konsequent bis zum Ende beschreiten…

    … wählen die Dardennes stattdessen einen feigen Cop Out. Ihre Lösung: Ein tragischer Unfall, der aber auch gar nichts mit dem vorherigen Geschehen zu tun hat. Die Dardennes haben sich beim Schreiben von „Young Ahmed“ ganz offensichtlich selbst in eine Sackgasse manövriert, nur um dann Angst vor ihrer eigenen Geschichte zu bekommen – und so nutzen sie lieber ein unvorbereitetes und unverdientes Zufallsereignis, um doch noch zu einem einigermaßen herkömmlich-versöhnlichen Ende abzubiegen. So verpufft auch noch die Wut und es bleibt einfach nur noch ein großes Nichts. Stattdessen hätten die Brüder in diesem Moment des Schreibprozesses lieber noch einmal von vorne begonnen. Oder das Projekt gleich ganz bleiben lassen. Denn etwas tatsächlich Neues oder Erhellendes haben sie zu der Thematik ja offensichtlich ohnehin nicht zu sagen.

    Fazit: Niemand ist unfehlbar. Nicht mal die Dardennes. Wobei die Art ihres Scheiterns aber durchaus eine Reihe faszinierender bis faszinierend-verstörender Momente provoziert.

    Wir haben „Young Ahmed“ auf dem Filmfestival in Cannes gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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