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    Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen
    Von Lars-Christian Daniels

    Erst verließ Schauspielerin Petra Schmidt-Schaller 2015 den vom NDR produzierten Bundespolizei-„Tatort“ mit Wotan Wilke Möhring und wurde von Franziska Weisz beerbt. Anfang des Jahres 2016 erlebte dann Til Schweiger mit seiner Hamburger „Tatort“-Doppelfolge ein Quotendesaster, und auch der Kino-Ausflug „Tschiller: Off Duty“ geriet zum Megaflop – eine Fortsetzung der NDR-Folgen mit dem Kinostar ist daher noch Verhandlungssache. Auch hinter den Kulissen der vielgelobten „Tatort“-Folgen aus Kiel rumorte es: Der Vertrag mit Hauptdarstellerin Sibel Kekilli ist offenbar ausgelaufen, weshalb bereits über einen Ausstieg des „Game of Thrones“-Stars spekuliert wurde. Und während das Publikum der ebenfalls unter Federführung des NDR entstandenen 1000. Folge „Tatort: Taxi nach Leipzig“ entgegenfiebert (TV-Termin: 13.11.2016), hängt mit dem „Tatort: Borowski und die Kieler Woche“ ein seit fast eineinhalb Jahren abgedrehter Krimi aus dem Norden immer noch in der Warteschleife. Kurzerhand vorgezogen wurde nun ein Film des Kieler Teams, dessen letzte Klappe erst im Mai 2016 fiel: Raymond Leys „Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen“ ist ein sehenswerter Krimi mit aktuellem Zeitbezug, geht es doch um die Radikalisierung junger Muslime in Deutschland.  

    Auf dem Kieler Polizeipräsidium, in dem ein leerstehender Gebäudetrakt gerade zu einem Flüchtlingsheim umfunktioniert wird, erscheint eine junge Frau: Die 17-jährige Schülerin Julia (Mala Emde) behauptet, ihr Bruder Nils (Sven Schelker) habe ihre Mitschülerin Maria (Anja Antonowicz) ermordet. Am nächsten Morgen wird deren Leiche tatsächlich aus der Förde gezogen. Aber ist Nils wirklich der Täter? Und wenn ja, warum hat ihn seine eigene Schwester angeschwärzt? Die Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) finden heraus, dass Julia zum Islam konvertiert ist und sich nicht nur von ihrem Bruder, sondern auch von ihrer Mutter (Patrycia Ziolkowska) abgewandt hat. Die Ermittlungen führen die Kommissare in eine Moschee, in der sie auf den undurchsichtigen Imam Abu Abdullah (Ferhat Keskin) und den frisch aus der Haft entlassenen Gewalttäter Hasim Mahdi (Dogan Padar) treffen. Auch die Muslimin Amina Jaschar (Sithembile Menck), die eng mit Julia befreundet ist, gerät ins Visier der Ermittler. Dann funkt Borowski und Brandt allerdings Kollege Kesting (Jürgen Prochnow) vom Staatsschutz dazwischen, der ganz andere Interessen verfolgt ...

    Radikale Muslime halten nicht zum ersten Mal Einzug in die beliebteste deutsche Krimireihe: Im hochspannenden „Tatort: Der Weg ins Paradies“ durchkreuzte beispielsweise Undercover-Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) 2011 in letzter Sekunde die Pläne einer massenmordenden Terrorzelle, und im März 2016 verhinderten die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) im „Tatort: Zorn Gottes“ einen Anschlag am Flughafen in Hannover. Beim NDR hat man offenbar Gefallen an solchen Stoffen gefunden und greift erneut ein brandaktuelles Thema auf: Die Radikalisierung junger Muslime ist nicht nur in Deutschland ein vieldiskutiertes Problem und beschäftigt daher natürlich auch die im Anschluss an die Erstausstrahlung des Krimis folgende ARD-Talkrunde mit Anne Will. Anders als in den oben genannten „Tatort“-Folgen liegt der Fokus von Drehbuch-Debütantin Charlotte I. Pehlivani und Regisseur Raymond Ley („Eichmanns Ende“) aber nicht auf dem Verhindern eines Terroranschlags: Statt die Kommissare bei einem Wettlauf gegen die Zeit nach einem Attentäter suchen zu lassen, beschäftigen sich die Filmemacher mit der Frage, was eine intelligente junge Kielerin dazu bringen kann, ihrem bisherigen Weltbild abzuschwören und sich von den zweifelhaften Botschaften fundamentalistischer Hassprediger verführen zu lassen.

    Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik funktioniert im „Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen“ ziemlich gut, wenngleich der Tod von Julias Vater als Auslöser für ihren Sinneswandel und die damit einhergehende Aussicht auf eine Zwangsheirat etwas behauptet wirkt. Ein eskalierendes Streitgespräch in der Moschee bietet dagegen ein differenziertes Bild der verschiedenen Positionen, während beim Zoff zwischen der radikalisierten Julia, ihrer verzweifelten Mutter und ihren entsetzten Mitschülerinnen eindringlich deutlich wird, dass ihr mit Argumenten nicht mehr beizukommen ist. Als Krimi besitzt der 999. „Tatort“ allerdings einen etwas geringeren Unterhaltungswert: Nach einem hektisch inszenierten Auftakt plätschert die Geschichte eine geschlagene Stunde behäbig vor sich hin – erst auf der Zielgeraden bringt der Fund der obligatorischen zweiten „Tatort“-Leiche spürbar Dynamik ins Geschehen. Auch die bis dahin fast etwas lustlos wirkenden Hauptkommissare Borowski und Brandt sind dann auf Betriebstemperatur – Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) hingegen wirkt diesmal wie das fünfte Rad am Wagen und kuscht natürlich sofort, wenn der einflussreiche Kollege vom Staatsschutz im Revier aufschlägt und seine eigenen Interessen geltend macht.

    Für die Besetzung dieser Rolle hat sich der NDR echte Kino-Prominenz mit ins Boot geholt: Jürgen Prochnow („Das Boot“, „Die dunkle Seite des Mondes“) ist bereits zum vierten Mal in einem „Tatort“ mit von der Partie (sein erster Auftritt unter der Regie von Wolfgang Petersen datiert von 1973). Anders als die glänzend aufgelegte Jungschauspielerin Mala Emde, die bereits bei „Meine Tochter Anne Frank“ mit Regisseur Raymond Ley zusammenarbeitete und für diese Hauptrolle den Bayerischen Fernsehpreis erhielt, wird der deutsche Hollywood-Export allerdings kaum gefordert: Prochnow mimt wie schon viele andere Schauspieler im „Tatort“ vor ihm einen skrupellosen Störenfried vom LKA, der sich für den Mordfall kaum interessiert und alles seinen eigenen Plänen unterordnet. Die Reibereien mit den Kieler Kommissaren fallen dabei ähnlich halbherzig aus wie die schwache Auflösung: Unter dem Strich wird man das Gefühl nicht los, dass sich ein paar Nebenfiguren zu viel in diesem Krimi tummeln und die Charakterzeichnung daher fast zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss. Trotz einiger guter Ansätze zählt der elfte gemeinsame Fall von Borowski und Brandt damit nicht zu den stärksten Beiträgen aus der nördlichsten deutschen „Tatort“-Stadt.

    Fazit: Raymond Ley setzt sich in seinem „Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen“ überzeugend mit der Radikalisierung junger Muslime auseinander, doch sein Krimi krankt an einigen Drehbuchschwächen und einer lange Zeit flachen Spannungskurve.

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