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    Widows - Tödliche Witwen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Widows - Tödliche Witwen
    Von Antje Wessels

    Im Film körperliche Schmerzen zu visualisieren, ist relativ simpel: Man muss nur lange genug an Extremitäten herumzerren, Finger absägen oder einem Menschen das Messer in die Brust rammen – irgendwann kann auch der letzte Zuschauer ungefähr erahnen, was das Opfer auf der Leinwand gerade durchmacht. Mehr Fingerspitzengefühl ist hingegen gefragt, wenn Schmerz psychologisch bedingt ist. Denn hier hängt viel davon ab, dass man sich mit dem Leid der Filmfigur identifizieren kann. Regisseur Steve McQueen hat in seinen bisherigen Filmen immer von körperlichen und seelischen Schmerzen erzählt und die psychologische Ebene dabei klar in den Vordergrund gerückt. Wie stark muss die Willenskraft eines Mannes sein, der sich zu Tode hungern will („Hunger“)? Was geht in einem Menschen vor, dessen krankhafte Sexsucht die Herrschaft über den Verstand übernimmt („Shame“)? Und was kann ein Mensch überhaupt alles aushalten, bevor er seelisch endgültig zerbricht („12 Years A Slave“)?

    Mit „Widows – Tödliche Witwen“, der auf der gleichnamigen britischen Mini-Serie aus dem Jahr 2002 basiert, präsentiert McQueen nun seinen bisher zugänglichsten Film, ohne deshalb auf sein bisheriges Markenzeichen zu verzichten: Um das Szenario eines herben Verlustes strickt McQueen mit seiner Co-Drehbuchautorin Gillian Flynn („Gone Girl“) eine Geschichte, die zu gleichen Teilen packendes Heist-Movie, eingängige Charakterstudie und erschreckende Momentaufnahme einer von Korruption, Gefühlskälte und Verachtung geprägten Gesellschaft ist. Als „The Wire“ trifft „Ocean’s 8“ funktioniert „Widows“ zugleich als spannendes Unterhaltungskino und – wenn man will – als bitteres Porträt einer Stadt am Abgrund. Wobei man durchaus an einigen Stellen merkt, dass der Film auf einer vierteiligen Mini-Serie basiert. Denn einige Aspekte des komplexen politischen, gesellschaftlichen und soziologischen Geflechts werden in der 128-minütigen Kinofassung im Vergleich zur 273-minütigen TV-Version eher angedeutet als vollständig ausgeleuchtet.

    Veronica (Viola Davis) und Harry (Liam Neeson) sind seit vielen Jahren verheiratet und leben wohlsituiert in Chicago. Sein Geld verdient Harry als Räuber – bis er und seine Partner eines Tages bei einem Job durch eine Explosion ums Leben kommen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hinterlässt Harry seiner Witwe auch noch einen Schuldenberg von zwei Millionen Dollar. Der unberechenbare Gangster Jamal Manning (Brian Tyree Henry), der gerade gegen den favorisierten Jack Mulligan (Colin Farrell) in den Wahlkampf zieht, macht Veronica deutlich, dass sie nun für die Millionensumme geradezustehen hat. Doch weder von ihm noch von dem brutalen Geldeintreiber Jatemme (Daniel Kaluuya) lässt sich Veronica einschüchtern. Stattdessen beschließt sie, einen von Harrys bereits ausgearbeiteten Heist-Plänen einfach selbst in die Tat umzusetzen, um mit dem erbeuteten Geld die Schulden zu begleichen. Dazu trommelt sie die toughe Linda (Michelle Rodriguez) und die zurückhaltende Alice (Elizabeth Debicki) zusammen, deren Ehemänner ebenfalls bei der Explosion getötet wurden. Und mit der Friseurin Belle (Cynthia Erivo) hat das Witwen-Trio auch noch eine ausgezeichnete Fluchtwagenfahrerin mit an Bord…

    Dass die Autorin von „Gone Girl“ auch am Skript zu „Widows“ mitgewirkt hat, macht durchaus Sinn. Denn genau wie „Gone Girl“ nicht nur ein reißerischer Thriller, sondern auch bitterböse Medien-Satire, zynische Ehe-Analyse, pechschwarze Charakterstudie und klassischer Krimi ist, erweist sich nun auch „Widows“ als vielschichtiger als es im ersten Moment vielleicht den Eindruck macht. Denn wenn der Trailer „Widows“ vornehmlich als Heist-Movie erscheinen lässt, dann ist das definitiv nur die halbe Wahrheit. Schließlich nimmt der Coup der „Tödlichen Witwen“ nur einen Bruchteil der 128 Minuten Laufzeit ein. Davor geht es neben allerlei politischer und gesellschaftlicher Nebenschauplätze vor allem darum, wie die Frauen ihren Verlust auf unterschiedliche Weise zu verarbeiten versuchen: Die eine stürzt sich in ihren Job, die andere in eine Affäre und Veronica eben in die Planung des gemeinsamen Raubüberfalls.

    Michelle Rodriguez („Fast & Furious 8“), Elizabeth Debicki („Codename U.N.C.L.E.“) und Viola Davis („How To Get Away With Murder“) verkörpern hier ein moralisch wie emotional nur schwer einzuordnendes Trio Infernale. Weder lässt sich sagen, dass sie sich durch ihre ähnlichen Schicksale freundschaftlich verbunden fühlen, noch ergeben sich aufgeheizte Konflikte durch die gegensätzlichen Charaktere. Alle drei Frauen stellen sich und ihre emotionalen Bedürfnisse zurück, um sich dem großen Coup zu widmen, durch den sie alle hoffen, ein neues Leben beginnen zu können. Mit konzeptionierter Hollywood-Frauenpower à la „Ocean’s Eight“ hat das wenig zu tun. Dennoch kann man sich hervorragend in die Hauptfiguren hineinversetzen, die nicht zuletzt deshalb immer an einem Strang ziehen, weil sie es ganz einfach müssen. Allein aus dieser untypischen Figurenkonstellation heraus entfaltet „Widows“ eine elektrisierende Dynamik fernab weichgespülter Traumfabrik-Blockbuster.

    Parallel dazu beleuchtet Steve McQueen auch die dunklen Seiten des heutigen Chicagos – also die Welt der Gangster und die der Politiker, zwischen denen es erstaunlich viele Überschneidungen zu geben scheint. Immer wieder zeigt McQueen den nihilistischen Geldeintreiber Jatemme, den Daniel Kaluuya („Get Out“) mit irrem Blick und einschüchternder Präsenz verkörpert. Mal schießt er seine Opfer ohne Vorwarnung direkt über den Haufen, ein anderes Mal lässt er seinem Sadismus freien Lauf, bis der Tod einer Erlösung gleichkommt. Doch auch, wenn diese Szenen schon allein aufgrund der ebenso konsequenten wie unberechenbaren Gewaltdarstellung spannend und fesselnd geraten, enttäuscht dieser Handlungsstrang letztlich ein wenig. McQueen tut einfach (zu) wenig, um ihn mit den Ereignissen rund um die drei Frauen zu verknüpfen. Zwar bewegen sich beide Ebenen erzählerisch aufeinander zu, doch sobald sie sich berühren, ist der ganze Spuk auch schon wieder vorbei. Die einen mögen das Understatement nennen, anderen die Nicht-Einlösung eines erzählerischen Versprechens. Insgesamt dienen die Handlungsstränge rund um die Gangster und die Politiker vor allem dem schonungslosen Entwurf einer Stadt am Abgrund, während sie den eigentlichen Plot nur wenig vorantreiben. Eine Parallele zu der überragenden HBO-Serie „The Wire“.

    Trotzdem bleibt „Widows – Tödliche Witwen“ spannend bis zur letzten Sekunde. Vor allem deshalb, weil der klassische Krimiplot mit einer ordentlichen Portion Gesellschafts- und Politkritik gewürzt wird, in deren Zentrum der glaubhaft unangenehm von Colin Farrell („The Killing Of A Sacred Deer“) verkörperte Jack Mulligan steht, der kein Versprechen abgeben kann, ohne dass man dahinter sofort einen weiteren korrupten Plan vermuten würde. Die Kameraarbeit von Sean Bobbitt und die Filmmusik von Hans Zimmer sorgen zudem dafür, dass der Thriller trittsicher zwischen intensiv-nervös und klassisch-elegant wandelt. Während in „Widows“ alles glaubhaft mit allem zusammenhängt und die Pläne der Witwen damit nur wie ein längst überfälliger Befreiungsschlag der bislang zum Stillhalten Verdammten anmuten, stellt sich McQueen mit einer erzählerischen Entscheidung im letzten Drittel selbst ein Bein. Ganz auf einen zentralen Twist der Marke „Gone Girl“ wollten die Beteiligten dann wohl doch nicht verzichten – nur dass dieser hier einfach nicht nötig gewesen wäre und der Authentizität des Films einen Dämpfer verpasst (zumal er auch kaum jemanden wirklich überraschen dürfte).

    Fazit: Steve McQueen gelingt mit „Widows – Tödliche Witwen“ ein nervenaufreibender Mix aus Heist-Thriller, herber Milieu-Studie und abgründigem Charakter-Drama mit jeder Menge Gesellschaftskritik, das trotz einiger erzählerischer Holprigkeiten definitiv einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

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