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    Innen Leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Innen Leben
    Von Woon-Mo Sung

    Wenn es im Kino um das Thema Krieg geht, dann stehen meist blutige Schlachten und militärische Manöver im Mittelpunkt. Wie die direkt oder indirekt betroffene Zivilbevölkerung diese Extremsituation erlebt, wird im Kriegsfilm häufig ausgeklammert. Doch zuweilen gibt es aufrüttelnde Meisterwerke wie Isao Takahatas Anime-Meilenstein „Die letzten Glühwürmchen“, in denen die Schrecken des Krieges fernab der eigentlichen Kampfhandlungen ihre verheerende Wirkung verbreiten und die ohne jegliches Gemetzel zu regelrechten Mahnmalen werden. Letzteres gilt nun auch für das eindringliche kammerspielartige Drama „Innen Leben“ des belgischen Regisseurs Philippe Van Leeuw. Er erzählt aus der Sicht der nichtkämpfenden Bevölkerung vom Bürgerkrieg in Syrien: intensiv, dringlich, hochaktuell.

    Eine namenlose Stadt irgendwo in Syrien. Hubschrauber, Explosionen und Maschinengewehrsalven bestimmen die Geräuschkulisse. Auf einem Hinterhof haben sich einige Menschen zusammengefunden. Plötzlich fällt ein Schuss und ein Projektil schlägt unmittelbar neben der Gruppe ein – ein Scharfschütze! In einem angrenzenden Haus lebt derweil eine Gruppe Menschen eingepfercht in einer kleinen Wohnung: Oum Yazan (Hiam Abbass), ihre drei Kinder Yara (Alissar Kaghadou), Aliya (Ninar Halabi) und Yazan (Mohammad Jihad Sleik), ihr Schwiegervater Abou Monzer (Mohsen Abbas), die Haushaltshilfe Delhani (Juliette Navis), die jungen Eltern Halima und Samir (Diamand Abou Abboud und Moustapha Al Kar) sowie Yaras Freund Karim (Elias Khatter). Gemeinsam versuchen sie, dem Treiben außerhalb der Wohnung zu trotzen und ein möglichst normales Leben zu führen. Doch die Ressourcen sind begrenzt und draußen wartet der Tod…

    Philippe Van Leeuw konzentriert sich über fast die gesamte Laufzeit auf einen einzigen Schauplatz: die Wohnung der Yazans. Er bleibt bei den wenigen Figuren in ihrem Unterschlupf, der zugleich ein Gefängnis ist. Bilder von Kriegshandlungen und Zerstörungen gibt es hier nicht, stattdessen lange Einstellungen der vollkommen unauffällig eingerichteten Zimmer und der Menschen in ihnen. Trotzdem ist der Krieg permanent präsent: Er tobt auf der Tonspur mit unberechenbar auf- und abebbender Intensität. Die Ruhe in den Verschnaufpausen ist trügerisch, der Tod kann wie ein grausamer Zufall jederzeit hereinbrechen. Durch die unsichtbare Allgegenwart des Grauens wird die ohnehin beklemmende Situation noch einmal verschlimmert. Den Eingesperrten steht immer wieder die Anspannung im Gesicht und ihr Gefühl des Ausgeliefertseins überträgt sich nach einer Weile auf den Zuschauer.

    Doch der Ausnahmezustand kann schwerlich ein Dauerzustand sein. So klammern sich die Bewohner des Apartments gleichsam an zuweilen fast banal wirkende alltägliche Handlungen vor allem bei der Körperpflege und bei der Hausarbeit. Das bringt sie uns noch näher, aber zugleich gibt der Kontrast zwischen scheinbar ganz gewöhnlicher Normalität und tödlicher Gefahr dem Geschehen eine wahrhaft tragische Dimension. So ist etwa den Mädchen Aliya und Yara der morgendliche Gang ins Bad ganz besonders wichtig, auch das Haarewaschen gehört dazu. Und Oum Yazan versucht stets, die WG zu gemeinsamen Mahlzeiten zusammenzubringen. Und jedes Mal wenn dann in diesen mühsam aufrechterhaltenen Alltag eine Explosion hineinbricht oder ein Schuss fällt, dann droht der Kampf um die lebensrettende Illusion von Sicherheit und Regelmäßigkeit verloren zu gehen. Das lässt uns das tolle Schauspielensemble immer wieder spüren. Angeführt wird es von Hiam Abbas („Exodus: Götter und Könige“) als forsche und um Stabilität bemühte Oum. Eine besondere Erwähnung verdient auch Juliette Navis als innerlich zerrissene Delhani, während Diamand Bou Abboud die emotional kraftvollsten Momente des Films bestreitet, wenn tatsächlich feindselige Männer in die Wohnung eindringen.

    Das moralische Dilemma, dem sich die meisten Bewohner angesichts des Einbruchs gegenüber sehen, ist zugleich sehr spezifisch und universell. Ähnliches gilt für den Film als Ganzes. Der Krieg in „Innen Leben“ ist zwar klar in Syrien zu verorten, aber darüber hinaus bleibt Van Leeuw bewusst unspezifisch. Es kommt nämlich letztlich nicht so sehr darauf an, wer hier gegen wen kämpft und warum, oder wo genau sich das Ganze abspielt. Die Ungewissheit, ob man den Tag überleben wird, die unheilvolle Atmosphäre, die Angst: All das gilt für die zivilen Opfer vieler verschiedener Konflikte auf der ganzen Welt. Aber das Wissen, dass das Gezeigte gegenwärtig in Syrien die bittere Realität für unzählige Menschen ist, verleiht dem Film erst seine fast unerträgliche Intensität. Die anonymen Massen aus den Nachrichten bekommen in diesem filmischen Plädoyer fürs mitfühlende Hinschauen Gesichter und Persönlichkeiten.

    Fazit: Beklemmend, packend und von aktueller Relevanz – „Innen Leben“ ist ein kammerspielartiges Antikriegsdrama, das von einem herausragenden Ensemble getragen wird.

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