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    Tatort: Nachtsicht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tatort: Nachtsicht
    Von Lars-Christian Daniels

    Die Nachricht kam für die Fans der Krimireihe völlig überraschend: Sabine Postel („Die Kanzlei“) und Oliver Mommsen („Ein offener Käfig“) quittieren 2019 ihren Dienst als „Tatort“-Kommissare! „Nach 20 Jahren ist für mich die Zeit reif für einen Wechsel. Deshalb höre ich jetzt mit einem weinendem, aber auch mit einem lachenden Auge auf“, gab Postel Anfang März bekannt, und Mommsen verwies darauf, dass man ja aufhören solle, „wenn es am Schönsten ist“. Während die Schauspielerin auf stolze 20 Dienstjahre zurückblicken kann, kommt ihr TV-Kollege auf 15 – und anders als in mancher anderen „Tatort“-Stadt hielten sich die Verschleißerscheinungen bei dem eingespielten Ermittler-Team aus dem kleinsten deutschen Bundesland noch in Grenzen. Das lag nicht zuletzt an der Kreativität der Bremer „Tatort“-Macher und vielen abwechslungsreichen Geschichten, die auch der fünftletzte Einsatz von Lürsen und Stedefreund wieder zu bieten hat: Florian Baxmeyers „Tatort: Nachtsicht“ ist eine gelungene Kreuzung aus packendem Serienkiller-Thriller und ruhigem Familiendrama.

    Den Bremer Hauptkommissaren Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) bietet sich ein Bild des Grauens: Unter einer Brücke wurde ein junger Mann von einem Auto überfahren. Der Wagen ist mehrfach über den Körper gerollt und hat ihn fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Gerichtsmediziner Dr. Katzmann (Matthias Brenner) schließt einen Unfall als Todesursache aus und behält Recht: Kurze Zeit später wird auf einer Landstraße ein weiterer Jugendlicher totgefahren. Ein Serientäter ist am Werk. Lürsen und Stedefreund, die bei ihren Ermittlungen von der technikaffinen BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) unterstützt werden, verfolgen einen Hinweis auf Ex-Junkie Kristian Friedland (Moritz Führmann), der mit seiner querschnittsgelähmten Freundin Tajana Noack (Natalia Belitski) zusammenlebt. Als die Kommissare den gelernten Maler und Lackierer befragen, platzt dessen Vater Jost Friedland (Rainer Bock) ins Verhörzimmer – er scheint die Ermittlungen unbedingt von seinem Sohn fernhalten zu wollen, um seiner krebskranken Ehefrau Leonie (Angela Roy) unnötige Aufregung zu ersparen. Dann geschieht ein weiterer Mord – und diesmal lässt der Täter seinen Wagen zurück...

    Wenn man den Bremer „Tatort“-Machern in den vergangenen Jahren etwas nicht vorwerfen konnte, war es der fehlende Mut zu ausgefallenen Geschichten – das ging zwar manchmal kolossal in die Hose, sorgte aber auch für so manchen Volltreffer. Klischeebeladenen Folgen wie dem „Tatort: Echolot“ stand zum Beispiel der hochspannende Thriller „Tatort: Brüder“ gegenüber, in dem die Kommissare zum Spielball einer kriminellen Großstadtbande wurden. Mittelmaß gab es an der Weser selten, und auch diesmal brechen die Filmemacher mit einigen ungeschriebenen Gesetzen der Krimireihe: Vieles im Film spielt sich hinter dem Rücken der Kommissare ab und die Täterfrage wird nur pro forma gestellt, denn der Mörder ist schon nach wenigen Minuten offensichtlich. Die Geschichte wird weniger durch die Ermittlungsarbeit der Kommissare vorangetrieben, als vielmehr durch das Spannungsfeld innerhalb der Familie des Täters. „Alle um sie herum veranstalten einen großen Totentanz – das muss aufhören“, bilanziert Lürsen im Gespräch mit der todgeweihten Krebspatientin Leonie Friedland – Konflikte werden ausgesessen, die Realität verdrängt und das Offensichtliche totgeschwiegen.

    Wie die Geschichte ausgehen mag, ist schwer zu prognostizieren, und für zartbesaitete Zuschauer gilt es zudem ein paar ungewohnt harte Schockmomente zu überstehen: Die Ausfahrten des Serienkillers in seinem schwarzen und in bester „James Bond“-Manier getunten Fahrzeug wecken Erinnerungen an Quentin Tarantinos „Death Proof“ und werden von Regisseur Florian Baxmeyer hochspannend ins Szene gesetzt. „Wie ein Hai“, umschreibt der schockierte Stedefreund die Methoden des Killers und trifft den Nagel damit auf den Kopf: Heimlich, still und leise tastet sich der Todesfahrer nachts mit seinem lautlosen Elektromotor ohne Scheinwerferlicht an die ahnungslosen jungen Männer heran, um dann plötzlich das Gaspedal durchzudrücken. Bei seiner dritten Tat sehen wir den maskierten Mörder in voller Montur: Er ist ein finsteres, fast alienartiges Wesen, das sich ein monströses Nachtsichtgerät über den Kopf gestülpt hat. Nicht nur seinem bedauernswerten Opfer, sondern auch so manchem „Tatort“-Zuschauer dürfte bei diesem Anblick das Blut in den Adern gefrieren. Wie viele andere Serientäter in der Filmgeschichte nimmt er außerdem Trophäen vom Tatort mit – da dreht sich selbst dem hartgesottenen Dr. Katzmann (Matthias Brenner) in der Pathologie der Magen um.

    Dass der 1014. „Tatort“ trotz kleinerer Längen im Mittelteil so überzeugend ausfällt, liegt neben der reizvollen Geschichte aber auch an den tollen Schauspielern: Die Drehbuchautoren Stefanie Veith und Matthias Tuchmann, die 2015 bereits das Skript zum starken „Tatort: Die Wiederkehr“ beisteuerten, beschränken sich neben den Kommissaren auf lediglich vier wichtige Figuren und räumen diesen ausgiebig Platz zur Entfaltung ein. Während Moritz Führmann („Sommerfest“) in der Rolle des etwas debil wirkenden Triebtäters und Angela Roy („Rote Rosen“) als einbeinige Krebskranke starke Leistungen abliefern, ragt Hollywood-Export Rainer Bock („Inglourious Basterds“, „Unknown Identity“) als kühl kalkulierender Familienvater aus dem tollen Cast noch einmal heraus. Natalia Belitski („Vaterfreuden“) kann sich als rollstuhlfahrende Partnerin Kristians weniger in den Vordergrund spielen – bekommt aber zumindest mehr Zeit vor der Kamera zugestanden als die zur Stammbesetzung zählende Camilla Renschke, der die Filmemacher in ihrer Rolle als Lürsen-Tochter Helen Reinders erneut nur eine einzige Szene zugestehen. Reinders, die sich 2009 auf ein kurzes Techtelmechtel mit Stedefreund einließ, steht im Bremer „Tatort“ schon seit Jahren auf dem Abstellgleis – wie gut, dass der smarte Kommissar mit der toughen BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) längst Ersatz gefunden hat.

    Fazit: Florian Baxmeyers „Tatort: Nachtsicht“ ist ein überzeugendes Krimidrama und zugleich ein vielversprechender Auftakt zur Abschiedstournee der Bremer „Tatort“-Kommissare.

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