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    Benedetta
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Benedetta

    Mehr als nur Sexploitation um lesbische Nonnen

    Von Michael Meyns

    Was wohl der Papst davon halten würde? Offiziell müsste er „Benedetta“, den neuen Film des Kinoprovokateurs Paul Verhoeven, fraglos verurteilen. Aber „privat“ würde man dem als reformfreudig geltenden Franziskus durchaus zutrauen, zwischen Kirchen- und Religionskritik unterscheiden zu können. Gut, die expliziten Sexszenen dürften ihn irritieren, der Missbrauch einer Marienstatue gar befremden, aber was Verhoeven in seinem lang erwarteten Film über Religion, Sexualität, Glaube und Macht erzählt, geht weit über das allzu plakative Label „Lesbische Nonnen-Exploitation“, das dem Film im Vorfeld verliehen wurde, hinaus.

    Italien im 17. Jahrhundert: Ein 9-jähriges Mädchen wird in ein Kloster in der kleinen Ortschaft Pescia gebracht. Jahre später hat Benedetta (Virginie Efira) schließlich Visionen von Jesus – sie entwickelt Stigmata an Händen und Füßen und verkündet die Botschaft des Herrn. Ihre Äbtissin Felicita (Charlotte Rampling) ist skeptisch ob der vermeintlichen Wunder und beobachtet Benedetta bald beim lesbischem Sex mit der jungen Nonne Bartolomea (Daphné Patakia). Nachdem sie gar ihr Amt an Benedetta verliert, hat Felicita endgültig genug und sucht in Florenz den päpstlichen Nuntius (Lambert Wilson) auf. Dieser soll klären, ob Benedetta tatsächlich Visionen hat oder ob sie doch nur eine Betrügerin ist…

    Die Beziehung zu ihrer Nonnenschwester führt bei Benedetta nicht nur zu einem sexuellen, sondern auch zu einem religiösen Erwachen.

    Schaut man sich die Filme von Paul Verhoeven nur oberflächlich an, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass der inzwischen 82-jährige Niederländer nur an Sex und Gewalt interessiert ist. Aber selbst wenn Filme wie „RoboCop“ oder „Starship Troopers“ nicht an exzessiven Blutbädern und Werke wie „Türkische Früchte“ und „Basic Instinct“ nicht an expliziten Techtelmechteln sparen, sind diese vordergründigen Reize doch immer nur Mittel zum Zweck: Unter der Exploitation-Oberfläche verhandelt Verhoeven stets pervertierte Machtstrukturen oder strukturelle Unterdrückung – er zeigt den Sexismus von patriarchalischen Gesellschaften auf, ist in seinen besten Momenten – wie etwa im Falle der meisterhaften Vergewaltigungs-Satire „Elle“ – vielleicht sogar ein feministischer Filmemacher. Aber was vermutlich viele nicht wissen: Er ist zudem auch noch ein Bibelgelehrter!

    20 Jahre lang hat er das sogenannte Jesus-Seminar besuchte – einen Kreis von Forschern, Wissenschaftlern und Intellektuellen in Los Angeles. Ursprünglich recherchierte Verhoeven dort für einen Jesus-Film, der dann jedoch nie realisiert wurde. Anspielungen auf die Auferstehung Jesu sind dafür deutlich in „RoboCop“ zu spüren – und das Interesse an christlichen Themen führte noch zu einem zweiten, ebenfalls nicht realisierten Film: „The Crusades“, ein exzessiv-brutaler Film über die Kreuzzüge und die Zerstörung Jerusalems stand Ende der 1990er ganz kurz vor Drehbeginn – mit einem Budget von damals exorbitanten 100 Millionen Dollar und Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle! Das Drehbuch ist im Internet zu finden und verrät einiges darüber, wie radikal und schonungslos Verhoeven mit dem Thema Religion umzugehen bereit ist – und genau das tut er nun auch in „Benedetta“.

    Typisch Verhoeven!

    Verhoeven ist zwar Atheist, aber zugleich doch fasziniert von den christlichen Erzählungen und Legenden. 2009 veröffentlichte er das Sachbuch „Jesus - Die Geschichte eines Menschen“, das die Person Jesus Christi frei von den Ausschmückungen der Evangelien beschreibt. Im Geist dieser Arbeit muss man wohl auch „Benedetta“ sehen, der auf einem Buch der in Argentinien geborenen amerikanischen Historikerin Judith C. Brown basiert: „Schändliche Leidenschaften “, was sich wie der Titel eines Softpornos aus den Siebzigern anhört, aber tatsächlich ein Zitat aus der Bibel ist. Im Neuen Testament heißt es im Römerbrief: „Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Leidenschaften. Denn ihre Frauen haben den natürlichen Gebrauch vertauscht mit dem widernatürlichen“ – eine der ganz wenigen Passagen der Bibel, in der explizit von Homosexualität die Rede ist. Zusammen mit David Birke, seinem Co-Autor von „Elle“, formt der Regisseur aus den Beschreibungen der Visionen einer Nonne im 17. Jahrhundert einen typischen Verhoeven-Film – eine bildgewaltige, überdrehte Satire mit einer starken Frau im Mittelpunkt.

    Das religiöse und sexuelle Erwachen Benedettas beginnt, als ihr Bartolomea, eine neue Schwester im Kloster, während der Messe, nun ja, einen Finger in den Hintern steckt. Die unverhofften Emotionen lassen sie Jesus sehen, den Erlöser, aber auch die Schlange, das Zeichen der Erbsünde. Bald trägt Benedetta Stigmata zur Schau, steigt in der Klosterhierarchie auf, beginnt Sex und Macht zu entdecken und damit ihre Selbstbestimmung. Und darum geht es: In einer Welt, in der Frauen noch weniger Freiheiten zugestanden wurden als im modernen Showgeschäft, das Verhoeven in seinem – je nach Sichtweise – Machwerk oder Meisterwerk „Showgirls“ sezierte, war es ironischerweise gerade das Leben als Nonnen, das zumindest ein bisschen Freiheit versprach.

    Die katholische Kirche sieht sich von Benedettas Visionen bedroht - und greift zu drastischen Maßnahmen!

    Für die Väter war das übrigens auch kein schlechtes Geschäft, war die Mitgift bei einer Heirat doch deutlich höher als die Kosten für den Eintritt ins Kloster. Denn auch darum geht es, ums Geld! Nicht nur die Äbtissin des Klosters weiß um ihre Macht, sondern auch der schmierige Nuntius: Der Botschafter des Papstes lebt in Saus und Braus und hat keinerlei Interesse an einer Nonne, die vorgibt, Visionen zu haben – schließlich könnte sie, wenn man ihr glaubt, die Autorität und Interpretationshoheit der Kirche in Frage stellen.

    Ob Benedette die Visionen tatsächlich erlebt, sie sich nur einbildet oder gar vortäuscht, lässt Verhoeven bewusst offen. Ganz deutlich wird hingegen, dass es das sexuelle Erwachen ist, das Benedettas Glaube bestärkt. Und so geht es auch hier, wie in vielen Filmen, die reflexhaft als frevelhaft oder gar als Sakrileg bezeichnet werden, weniger um antireligiöse Tiraden und mehr um ein kompromissloses Entlarven der Strukturen der Institution Kirche. Mit Wucht und Verve und einer Marienstatue, die auf der anderen Seite zu einem praktischen Holzdildo umgeformt wurde, zerschmettert Verhoeven alles, was der Kirche, aber nicht zwingend auch den Gläubigen heilig sein muss…

    Fazit: Ein typischer Verhoeven! Einmal mehr provoziert der niederländische Regisseur mit expliziten Momenten, die direkt ins Herz der katholischen Kirche zielen, dabei aber nie platt-antireligiös sind, sondern unerbittliche Fragen nach dem Wesen des Glaubens und dem Machtmissbrauch der katholischen Kirche stellen.

    Wir haben „Benedetta“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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