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    Djam
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Djam
    Von Katharina Granzin

    Musik ist in den Filmen von Tony Gatlif („Latcho Drom“, „Gadjo Dilo“) nie einfach nur schöner Klang. Sie ist nicht einmal „nur“ Ausdruck von Gefühlen und Leidenschaften, sondern viel mehr: In ihr steckt stets ein großer Teil der Identität jener Menschen, die mit ihr und in ihr leben. In seinem neuen Spielfilm „Djam“ widmet der algerischstämmige französische Regisseur sich dem Rembetiko, einer in Griechenland gepflegten Musiktradition griechisch-türkischen Ursprungs. Mit zwei jungen Frauen in den Hauptrollen inszeniert Gatlif eine Art Roadmovie, das seinen Ausgang auf der griechischen Insel Lesbos hat und auch wieder zurück dorthin findet. Flüchtlings- und Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Menschen kommen dabei ganz beiläufig mit ins Spiel. Doch „Djam“ ist in erster Linie ein sehr sinnlicher Film über die Kraft, die in der Musik steckt, und den unbeugsamen Lebenswillen der Menschen. So zeigt Gatlif zwar ganz ungeschminkt die rauen Seiten der Wirklichkeit, feiert aber vor allem die kulturelle und mentale Widerständigkeit seiner Filmfiguren.

    Djam (Daphne Patakia) ist eine junge Frau von großem Selbstbewusstsein. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wurde sie von deren Lebensgefährten Kakourgos (Simon Abkarian) aufgezogen, der einst ein Restaurant in Paris besaß und nun auf der Insel Lesbos ein Touristen-Ausflugsboot betreibt. Derzeit aber liegt das Boot still. Seit Beginn der Flüchtlingskrise kommen keine Touristen mehr, und außerdem ist der Motor - ein seltenes russisches Modell - kaputt. Kakourgos schickt Djam nach Istanbul zu einem Schmied, dem er zutraut, die defekte Treibstange nachzubilden. In der Stadt am Bosporus liest Djam zufällig die Französin Avril (Maryne Cayon) auf, die Flüchtlingen helfen wollte, aber von einem Mitreisenden ausgeraubt wurde und nun hilflos und ohne Sprachkenntnisse zurückgeblieben ist. Djam stattet die Fremde mit ein paar Kleidungsstücken aus und nimmt sie kurzerhand mit auf den Weg nach Hause. Dieser erweist sich aber als langwieriger als gedacht, denn in Griechenland wird allerorten gestreikt und so müssen die beiden Frauen weite Strecken zu Fuß zurücklegen…

    Die äußere Form des Roadmovies gibt Regisseur Tony Gatlif Gelegenheit zum Einbau von Musiknummern in regelmäßigen Abständen, aber vor allem auch dazu, unerwartete und mitunter aufwühlende Begegnungen der beiden Protagonistinnen mit bekannten und unbekannten Menschen in Szene zu setzen. Djam singt und tanzt, sie spielt das Zupfinstrument Baglama, sie trifft auf andere Musikerinnen und Musiker, mal gibt es eine Solonummer, dann eine gemeinsame Session, dann wieder verharrt die Kamera minutenlang auf einem Gesicht, während im Hintergrund musiziert und gefeiert wird. Mit dieser einen langen Einstellung evoziert Gatlif ganze (Gefühls-)Welten, denn das Gesicht gehört einem Mann, der zuvor noch Selbstmord hatte begehen wollen, nun aber Arbeit in Norwegen gefunden hat. Genaueres über ihn erfährt man nicht, es ist nicht mehr und nicht weniger als ein langer, mitfühlender Blick in das Schicksal eines fast Fremden.

    Dieser Blick, das wird anschließend klar, ist der von Avril, der zweiten Hauptfigur, deren Perspektive die Kamera eingenommen hat. In einer anderen Szene geht die junge Französin am Strand von Lesbos über einen Hügel, auf dem sich abgewrackte Boote türmen. Daneben befindet sich ein riesiger Berg von weggeworfenen Rettungswesten - stumme Zeugen der großen Flüchtlingswanderung. Bei Gatlif genügen oft wenige Bilder, um große Dramen sicht- und fühlbar zu machen, an manchen Stellen verfangen die flüchtigen Impressionen allerdings weniger. So wirkt etwa die zärtliche Annäherung zwischen Djam und Avril ein wenig aufgesetzt und ausgestellt.

    Vieles erscheint hier fast spielerisch improvisiert, was zur offenen Erzählweise passt. Die beiden gemeinsam reisenden Frauen, aber auch Kakourgos sind Wandernde, die immer wieder gezwungen sind, ihr Leben neuen Bedingungen und Orten anzupassen. Djams Ziehvater ruft dabei nicht zufällig das Schicksal ihrer Mutter in Erinnerung, die vor ihrem strengen Vater, einem faschistischen Beamten, nach Frankreich geflüchtet war und im Exil zu einer großen Rembetiko-Sängerin wurde. Denn in der so melancholischen wie kraftvollen Musik des Rembetiko findet in diesem Film alles seinen emotionalen Widerhall: das alte Exil, das neue Exil, die große Flucht, die Zerstörung von Existenzen in der griechischen Schuldenkrise und nicht zuletzt die Stärke der Titelheldin.

    Fazit: Kunstvoll beiläufig erzähltes Roadmovie über eine starke junge Frau von der Insel Lesbos mit vielen wunderbaren Musiknummern im traditionellen Stil des griechisch-türkischen Rembetiko.

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