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    Der Spitzenkandidat
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Spitzenkandidat

    Die dunkle Seite des Polit-Journalismus

    Von Carsten Baumgardt

    Politik und Moral – eine schwierige Kombination. Das war zwar auch in den USA schon immer so und trotzdem schien es in der guten alten Zeit zumindest einfacher: Nach außen präsentierte sich der Politiker als vorbildlicher Familienvater und Ehemann – und ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und darüber berichteten selbst die Klatschblätter nicht. Diese Haltung änderte sich allerdings ganz plötzlich von einem Moment auf den nächsten! Von diesem historischen Wendepunkt in der medialen Berichterstattung handelt Jason Reitmans packendes Polit-Drama „Der Spitzenkandidat“ über den Aufstieg und Niedergang des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Gary Hart, der im Vorwahlkampf 1988 haushoch in Führung lag, dann aber über eine scheinbar harmlose Sexaffäre stolperte. Denn fortan war Moral öffentlich für jeden Amerikaner über Zeitungen und Fernsehen greifbar. Reitmans Polit-Biopic zeigt auf beeindruckende Weise die gut geölte Maschinerie eines zermürbenden Vorwahlkampfs, nur drückt sich der Regisseur letztendlich um eine eigene Haltung zu seinem brisanten Thema.

    1984: Sein erster Versuch im Alter von 47 Jahren geht knapp daneben. Gary Hart (Hugh Jackman), Senator aus Colorado, verliert den US-Vorwahlkampf der Demokraten gegen Walter Mondale, der danach bei der Präsidentschaftswahl deutlich gegen den Republikaner Ronald Reagan unterliegt. Drei Jahre später hat sich der fromme Familienmensch Hart, der mit seiner Frau Lee (Vera Farmiga) und seinen beiden Kindern Andrea (Kaitlyn Dever) und John (Evan Castelloe) zusammenlebt, weiter profiliert und liegt beim nächsten Anlauf aufs höchste Amt der USA in aussichtsreichster Position. Die Nominierung ist eigentlich nur noch Formsache, zu klar ist der Vorsprung im Vorwahlkampf. Doch dann beginnt der smarte Politiker heimlich eine Affäre mit dem jungen Model Donna Rice (Sara Paxton). Als erste Gerüchte aufkommen, sind Harts Wahlkampfmanager Bill Dixon (J.K. Simmons) und sein Team besorgt, dass es der Kampagne schaden könnte. Doch Hart selbst wiegelt ab und beruft sich auf den Ehrenkodex der Presse, Privates privat zu belassen. Ein fataler Irrtum. Die Reporter Tom Fiedler (Steve Zissis) und Pete Murphy (Bill Burr) vom Miami Herald lauern dem Politiker vor dessen Stadtwohnung in Washington auf und machen die Affäre publik…

    Vielleicht erinnert sich der ein oder andere noch an eine Szene zu Beginn von „Kingsman: The Golden Circle“. Da lässt Julianne Moore als Oberschurkin einen ihrer Lakaien buchstäblich durch den Fleischwolf drehen, um ihn seinem Nachfolger als Hamburger zu servieren. So ähnlich muss sich auch Gary Hart während seines 1988er Vorwahlkampfs zur Präsidentschaft gefühlt haben, nachdem er in den Mühlen der Presse gelandet ist. Die gewaltige Konfusion im Umgang entstand schließlich überhaupt erst, weil es zumindest in dieser Dimension völlig neu war, dass sich die Presse auf das Privatleben eines hochrangigen Politikers stürzt. Es ist genau die richtige Wahl, dass sich Regisseur Jason Reitman („Juno“, „Up In The Air“) speziell auf diesen Aspekt der Geschichte stürzt. Denn auch wenn Hart tatsächlich eine charismatische Figur ist, der man auch mal ein klassisches Biopic widmen könnte, ist es doch dieser Game-Changer-Moment, der „Der Spitzenkandidat“ seine Dringlichkeit verleiht.

    „Der Spitzenkandidat“ beginnt als routinierter Polit-Thriller, steigert sich dann aber mit zunehmender Skandalverdichtung unaufhaltsam in eine packende Dynamik hinein, die den Protagonisten im Schleudergang mehr und mehr rotieren lässt. Reitman nimmt mit seiner Inszenierung unterdessen die neutrale Position des Chronisten ein. Er enthält sich jeglicher Wertung, was zwar durchaus legitim ist, dem Film jedoch auf der anderen Seite emotionale Kraft raubt. Der von Hugh Jackman („Logan – The Wolverine“, „Greatest Showman“) überzeugend eigenbrötlerisch und mit fescher 80er-Jahre-Frisur gespielte Hart ist weder Sympathieträger noch Hassobjekt. Soll man als Zuschauer auf die Presse sauer sein? Weil die Journaille Hart bloßstellt, aber trotzdem die Wahrheit berichtet? Soll man Mitleid haben? Oder sich freuen, dass Hart „seine Strafe“ erhält? Die Suche der Perspektive überlässt Reitman seinem Publikum. Am ehestens eckt noch seine sympathische Kauzigkeit an, wenn Hart zum Beispiel seine Kandidatur für den Präsidentschaftswahlkampf auf einem Berg in Red Rocks vor den Medien verkündet – was dazu führt, dass sich alle Beteiligten erst einmal mühsam und fluchend den Berg hocharbeiten müssen.

    Was „Der Spitzenkandidat“ brillant illustriert, ist die Funktionsweise dieser wuchtigen Wahlkampfmaschinerie, mit der Hart über das Land rollt. Ein scharfer Blick hinter die Kulissen: Reitman zeigt, wie ein Rad ins andere greift, welche Ochsentour die Kandidaten auf dem Weg zur Macht zu absolvieren haben. Der riesige öffentliche Druck schwebt über allem. Es besteht immer die Gefahr, einen folgenschweren Fehler zu machen. Und als Hart diesen begeht, will er es einfach nicht wahrhaben. Schlimmer noch: Er inszeniert sich selbst als Opfer, während sein Team seine Geliebte Donna Rice den Presse-Löwen zum Fraß vorwirft. Hier ist „Der Spitzenkandidat“ moralisch hochinteressant und angemessen ambivalent.

    Am meisten berührt dabei nicht Harts Schicksal, denn das hat er sich selbst eingebrockt. Seine Frau Lee (souverän gespielt von Vera Farmiga) hat schwer mit der medialen Demontage ihrer Familie zu kämpfen und sucht verzweifelt nach einer eigenen Sichtweise zu dem Fauxpas ihres Mannes. Nebenbei schafft Reitman in kleinen Szenen auch ein Verständnis für Harts stark enttäuschtes Wahlkampfteam, dessen Mitglieder ihr reguläres Leben aufgebeben haben, um dem Charismatiker und seiner Aufbruchsstimmung zu folgen. Hart war exzellent darin, Politik für den normalen Bürger verständlich zu erklären und auf tatsächliche Probleme herunterzubrechen. Diese Gabe trug ihn im Wahlkampf und machte ihn zu dem damals größten Hoffnungsträger der Demokraten – quasi einem Vorläufer von Bill Clinton, der wiederrum aus Harts Schicksal so viel gelernt hatte, dass er nicht von der Presse überrascht wurde, als er sogar die medial breitgeschlagene Monika-Lewinski-Affäre erstaunlich schadlos überstand.

    Fazit: Jason Reitman arbeitet den exemplarischen Fall des über eine Sexaffäre gestürzten Star-Politikers Gary Hart zu einem dynamischen Stück Polit- und Mediengeschichte auf – allerdings geht er dabei wie ein pflichtbewusster Chronist vor und verzichtet weitestgehend darauf, großartig Bezüge zur Gegenwart herzustellen.

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