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    Tatort: Dein Name sei Harbinger
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tatort: Dein Name sei Harbinger
    Von Lars-Christian Daniels

    Im Juni 2017 spielten sich die Berliner Kommissare Nina Rubin (Meret Becker, „Feuchtgebiete“) und Robert Karow (Mark Waschke, „Dark“) endgültig in die oberste „Tatort“-Liga: Ihr starker „Tatort: Amour Fou“, der Nebendarsteller Jens Harzer („Same Same But Different“) im Oktober den Hessischen Filmpreis in der Kategorie „Bester Schauspieler“ einbrachte, war einer der besten Sonntagskrimis der ersten Jahreshälfte und überzeugte nicht nur die TV-Kritiker, sondern auch den Großteil des Publikums, das auf die eigenwilligen Folgen aus der Hauptstadt bis dato oft gespalten reagiert hatte. Am Ende des vielgelobten Films stand Hauptkommissarin Nina Rubin aber vor einer schweren Entscheidung: Würde sie mit ihrem Mann und den Kindern in die bayrische Provinz ziehen oder alleine in Berlin zurückbleiben? Rubin entschied sich fürs Bleiben und ermittelt in Florian Baxmeyers „Tatort: Dein Name sei Harbinger“ erstmalig losgelöst von (fast) allen privaten Nebenschauplätzen. Das tut dem Film gut: Der sechste Fall der ungleichen Berliner Ermittler ist einer ihrer stärksten, denn er wartet nicht nur mit einem originellen Unterwelt-Setting, sondern auch mit einer mutigen und für „Tatort“-Verhältnisse ungewohnt doppelbödigen Geschichte auf.

    Den Berliner Hauptkommissaren Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) bietet sich ein Bild des Grauens: In einem ausgebrannten Transporter liegt eine verkohlte Leiche. Wollte der Täter die Identität des Opfers gezielt vertuschen? Rubin und Karow, die bei ihren Ermittlungen von Gerichtsmedizinerin Nasrin Reza (Maryam Zaree) und Kommissarsanwärterin Anna Feil (Carolyn Genzkow) unterstützt werden, tippen auf einen Serienmörder, denn drei ganz ähnliche Fälle aus der Vergangenheit konnten bisher nicht aufgeklärt werden. Die Spur führt sie an den Wannsee: Alle vier Opfer wurden einst mithilfe der In-Vitro-Fertilisation in der Kinderwunschklinik von Dr. Irene Wohlleben (Almut Zilcher) und ihrer Lebenspartnerin Hanneke Tietzsche (Eleonore Weisgerber) gezeugt. Das lesbische Paar hat die Leitung der Klinik an seinen Sohn Dr. Stefan Wohlleben (Trystan Pütter) übergeben, der in den 80er Jahren als eines der ersten Retortenbabys Deutschlands zur Welt kam. Ein weiterer Hinweis führt die Kommissare zum Schlüsseldienstbetreiber Werner Lothar (Christoph Bach), der als 16-Jähriger einen Anschlag auf Wohlleben verübt hat und nach Aussage seines Psychiaters Dr. Ulbricht (Urs Jucker) an einem Borderline-Syndrom leidet...

    Ihr beiden seid echt wie so’n Magnet für Horrorleichen“, kommentiert Spurensicherer Knut (Daniel Krauss) am Leichenfundort launisch und bringt damit ein Markenzeichen der Hauptstadt-Krimis auf den Punkt: Seit dem Amtsantritt der neuen Ermittler geht der Berliner „Tatort“ regelmäßig dahin, wo’s wehtut. Mussten sich Rubin und Karow in ihrem ersten „Tatort: Das Muli“ auf einer Müllkippe durch Spuren wühlen und im „Tatort: Ätzend“ den Mörder eines in Säure aufgelösten Opfers zur Strecke bringen, klärt sich das Rätsel um die Identität der Brandleiche diesmal (anders als im eingangs erwähnten Vorgänger „Amour Fou“) relativ schnell. Auch die Täterfrage scheinen die Drehbuchautoren Michael Comtesse („Der Kriminalist“) und Matthias Tuchmann („Kein Entkommen“) früh zu beantworten: Schon in der toll arrangierten Eröffnungssequenz werden wir Zeugen, wie der psychisch kranke Eigenbrötler Werner Lothar das spätere Mordopfer unschädlich macht. Lothar, der auf den titelgebenden Decknamen „Harbinger“ hört und nach einem Zwischenfall am Bahngleis die Aufmerksamkeit der dreifach gepiercten Blumenverkäuferin Romy (Luise Aschenbrenner) auf sich zieht, ist die vielschichtigste Figur und zugleich der Dreh- und Angelpunkt dieses doppelbödigen, wenn auch etwas konstruiert wirkenden Psychothrillers. Aber ist er auch wirklich der Täter?

    Regisseur Florian Baxmeyer, der seit 2009 allein dreizehn „Tatort“-Folgen für Radio Bremen inszeniert hat, wagt sich erstmalig an einen Krimi aus Berlin und inszeniert ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Karow die direkte Konfrontation mit dem Hauptverdächtigen sucht und auch Feil ins Visier des Psychopathen gerät. Als die junge Kommissarsanwärterin, die einleitend den Tod ihres Vaters verkraften muss, ungebetenen Besuch von einem vermeintlichen Handwerker erhält, dürften beim Stammpublikum Erinnerungen an den herausragenden Kieler „Tatort: Borowski und der stille Gast“ wach werden, in dem sich Serienmörder Kai Korthals (Lars Eidinger) 2012 als Paketbote in die Wohnungen seiner Opfer schlich. Während Feils Gänsehautmoment (Stichwort: „Was meinst du mit hinter mir?“) zu den besten des Films zählt, ähnelt das Setting ansonsten dem im nicht minder überzeugenden Kieler „Tatort: Borowski in der Unterwelt“: Rubin und Karow ermitteln unter dem Alexanderplatz und der Steglitzer Schlossstraße auf dreckigen U-Bahnhöfen, in klaustrophobischen Gitterschächten und in schummerigen Heizungskellern – und finden sich irgendwann in einer Eisengießerei in Wilhelmsruh wieder, die erstmalig für Filmaufnahmen zur Verfügung stand.

    Die Hauptstadt wird im 1038. „Tatort“ aus einer ungewöhnlichen Perspektive und einmal mehr von ihrer hässlichsten Seite eingefangen, was ganz hervorragend zu den seelischen Abgründen passt, die sich in diesem Psychothriller auftun. Zugleich sind die finsteren Unterweltbilder ein gelungener Gegenentwurf zur sterilen Hochglanzästhetik der Klinik, hinter deren schmucken Fassaden vieles im Argen liegt. Ganz rund wirkt der Kriminalfall aber nicht, denn während es dem psychisch kranken und etwas zu leicht manipulierbaren Harbinger zwar nicht an Charisma, dafür aber an einer Vorgeschichte mangelt, wirkt die Kinderwunschthematik nicht ganz ausgereift: Hier werden Eizellen- und Samenspenden fleißig mit Leihmutterschaften und der In-vitro-Fertilisation in einen Topf geworfen, zum Reizthema wird eine skrupellose Regenbogenfamilie hinzugedichtet. Auch im Hause Rubin werden die Reste der klassischen Familienstruktur endgültig gesprengt: Die toughe Kommissarin schickt ihren mit ihr in der Hauptstadt zurückgebliebenen Sohn Tolja (Jonas Hämmerle) ohne mit der Wimper zu zucken nach Bayern – so bleibt ihr im Berliner „Tatort“ erfreulicherweise endlich mehr Zeit, dem exzentrischen Kollegen Karow Paroli zu bieten, der auch diesmal wieder den köstlichen Kotzbrocken gibt.

    Fazit: Florian Baxmeyers „Tatort: Dein Name sei Harbinger“ ist ein wendungsreicher und spannender Psychothriller, dessen kleinere Drehbuchschwächen vor allem durch das tolle Setting in der Berliner Unterwelt aufgefangen werden.

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