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    Wir töten Stella
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wir töten Stella
    Von Thomas Vorwerk

    Eine junge Frau, so dahindrapiert, dass dem Betrachter der Blick auf ihren Schlüpfer regelrecht aufgedrängt wird, schaut verzückt und selbstverliebt wie Narziss in einen Handspiegel. Die Titelfigur in Julian Roman Pölslers Familiendrama „Wir töten Stella“ ist in mehrerlei Hinsicht eine Projektionsfläche, schließlich versucht der Regisseur, auf der Kinoleinwand vor allem innere Vorgänge sichtbar zu machen. Der Filmtitel erscheint wie mit einer Schreibmaschine getippt. Anna (Martina Gedeck) ist jetzt allein, Mann und Kinder haben sie für zwei Tage verlassen. Nun kann sie darüber nachdenken, was passiert ist – und es auf ihrer Schreibmaschine niederschreiben. Im Garten zwitschert ein schwer verletzter Vogel, was ihre Konzentration stört. Sie will aber auch nicht eingreifen – weder will sie dem Vogel helfen, noch ihn von seinen Qualen erlösen. Mitleid spielt für sie offensichtlich keine Rolle.

    Julian Roman Pölsler übernimmt die Erzählsituation aus der Buchvorlage von Marlen Haushofer: Anna schreibt nieder, was geschehen ist, lässt sich dabei aber auch von ihrer gegenwärtigen Situation beeinflussen. Für den Off-Kommentar im Film benutzt der Regisseur und Drehbuchautor Pölsler die Worte aus dem Buch – nur etwas verkürzt. So entwickelt sich die eigentliche Geschichte zunächst in kurzen Rückblenden. „Ich wollte gar nicht über diesen unglückseligen Vogel schreiben, sondern über Stellas jämmerliche Geschichte. Viel lieber wäre ich tot wie sie.“ Und sofort, wie zur Bestätigung des Filmtitels, sieht man Stella (Mala Emde, „Katharina Luther“), die sich nur wenige Meter entfernt von der Wiener Vorstadtvilla, in der Anna die Geschichte niederschreibt, vor einen LKW wirft.

    Die Szene, in der die Tochter einer Cousine für ihr Studium für zehn Monate von Anna, ihrem Mann Richard (Matthias Brandt, Münchner Kommissar bei „Polizeiruf 110“), dem fast erwachsenen Sohn Wolfgang (Julius Hagg) und der zwölfjährigen Anette (Alana Bierleutgeb) aufgenommen wird, folgt erst etwas später. Stella ist bereits tot, bevor sie (chronologisch) das erste Mal auf der Bildfläche erscheint - und diese Situation wird auf unaufdringliche Weise mit der des Vogels parallelisiert. Wie „wir“ Stella getötet haben, ist dann die eigentliche Geschichte des Films - und die beginnt damit, dass Anna der jungen, aber zunächst unscheinbaren Stella sagt, dass sie schön sei. Anna kauft ihrem Gast auffällige Kleider (das Knallrot hat hier eine überdeutliche Farbsymbolik), die Stellas Leben eindrücklich verändern – nicht nur die Fremdwahrnehmung, auch ihr Selbstbild ändert sich maßgeblich.

    Stellas Schicksal, das von außen betrachtet so vorbildliche bürgerliche Familienleben und wie die „gnadenlose Chronistin“ Anna es beim Niederschreiben seziert, das alles entwickelt sich nebeneinander, wobei Martina Gedeck durch ihre Position als Erzählerin die eigentliche Hauptfigur ist. Marlen Haushofers „Wir töten Stella“ ist der erste Teil einer literarischen Trilogie, deren ungleich bekannterer Mittelteil „Die Wand“ ja bereits ebenfalls von Pölsler verfilmte wurde. So lässt sich der neue Film durchaus auch als Prequel verstehen - erneut mit Martina Gedeck als Anna, einem Hund namens „Luchs“ und einer Szene in der Steiermark. Sogar einen ersten Auftritt jener versinnbildlichten Depression, die im Zentrum von „Die Wand“ steht, gibt es. Man muss nicht beide Filme kennen, sie stehen völlig unabhängig voneinander, aber die Entwicklung der Hauptfigur ist auch über mehrere Filme oder Bücher hinweg durchaus spannend.

    Das je nach Sichtweise sehr konsequente beziehungsweise nahezu sklavische Beharren auf der Konstruktion der Buchvorlage wirkt hier und da nicht besonders filmisch, aber auch ohne Kenntnis der Novelle lässt sich leicht erkennen, dass gerade die Erzählsituation aus der Geschichte etwas Besonderes macht. Wie sich Annas Sichtweisen verändern (auch, aber nicht nur auf ihren Mann, den Matthias Brandt mit einer feinen, aber perfiden Abseitigkeit darstellt), das ist die eigentliche, „versteckte“ Geschichte, die durch die Türen, Treppen und Flure des Bürgerhauses in eine albdruckhafte Finsternis führt. Die zart-abgründige Atmosphäre dieser Hausfrauen-Hölle mag manchmal lapidar erscheinen, auch dank solcher betont stumpfen Dialoge wie diesem: „Stella, Sie sind ja ganz nass! Haben Sie den Schirm vergessen?“ - „Ja. Schirm vergessen!“ Aber für einen Film, in dem nichts allzu Spektakuläres passiert, ist die Inszenierung immens immersiv, sie zieht einen nicht nur in die Geschichte, sondern eben vor allem in das Innere der Erzählerin hinein. Dazu passt auch sehr schön dieses merkwürdige Blubbergeräusch in einigen der traumartigeren Szenen.

    Fazit: Nur vorgeblich etwas nachgiebiger als Claude Chabrol („Süßes Gift“) oder Michael Haneke („Happy End“) seziert Roman Pölsler die Abgründe der österreichischen Bourgeoisie und enthüllt die psychischen Narben, die sich hinter den schicken Villen und teuren Mercedes-Cabrios verbergen - und huldigt so nach „Die Wand“ erneut dem Schaffen der 1970 verstorbenen Schriftstellerin Marlen Haushofer.

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