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    Der Geschmack von Leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Der Geschmack von Leben
    Von Christoph Petersen

    Es gibt in „Der Geschmack von Leben“ gleich mehrere Cumshots, die zumindest schwer danach aussehen, dass sie tatsächlich real sind. Letztendlich sind es aber gar nicht solche pornographischen Einsprengsel, mit denen Regisseur Roland Reber („24/7 – The Passion Of Life“) sein Publikum am meisten irritiert beziehungsweise provoziert. Vielmehr ist es nach „Mein Traum oder Die Einsamkeit ist nie allein“, „Die Wahrheit der Lüge“ und „Illusion“ auch diesmal wieder diese absolute Selbstverständlichkeit, mit der der Indie-Auteur selbst die abstrusesten, sich gegenseitig eigentlich ausschließenden Elemente aneinanderreiht, die den Zuschauer so konsequent vor den Kopf stößt: „Der Geschmack von Leben“ (und ja, damit ist in erster Linie mal der Geschmack von Sperma gemeint) ist zugleich Ausdruck künstlerischer Avantgarde und provinzieller Piefigkeit, sexuell offenherzig und spießig wie ein fränkischer Stammtisch, ermüdend ernsthaft und herrlich selbstironisch – und wenn alles vorbei ist, sitzen die Macher und Schauspieler von der Münchner Kreativen-Kommune wtp international während des Abspanns alle zusammen im Kino und singen „Ich geh mit meiner Laterne“. Warum auch nicht, wo doch der einstige „Marienhof“-Klempner Wolfgang Seidenberg schon eine halbe Stunde zuvor als Pimmelfürst im Tarzan-Kostüm durchs Bild gehüpft ist.

    Seitdem es die Bild-Zeitung zu einem Titelseitenskandal hochgejazzt hat, dass die frühere ARD-Nonne Antje Nikola Mönning für „Engel mit schmutzigen Flügeln“ (bis heute einer der meistgeschauten Trailer auf FILMSTARTS) auf Sadomaso-Engel umgesattelt hat, sind nun neun Jahre vergangen. Inzwischen gehört Mönning neben Marina Anna Eich und Mira Gittner längst zum engsten wtp-Zirkel, bei „Der Geschmack von Leben“ hat sie nun erstmals auch am Drehbuch mitgeschrieben. In Zentrum des Films steht die von Mönning verkörperte Vloggerin Nikki, die für ihre Videoserie quer durch die Republik reist, um vornehmlich frustrierte Frauen nach ihren geheimen Wünschen sowie ihrer Vorstellung von einem richtigen Mann zu fragen und zwischendurch Fremden einen zu blasen (und so das Leben zu schmecken). Unterbrochen wird dieses rudimentäre Handlungsgerüst immer wieder von einem Aufruf zur Abstimmung für die „Fi(c)ktion des Monats“. Da soll der Zuschauer dann wählen zwischen einem fickenden Pärchen im Wald (bei dem ständig ein niedliches Schweinchen in die Kamera schnuppert), einer sich selbst befriedigenden alten Frau und natürlich dem Pimmelfürsten, der gerne eine wehrlose Frau vergewaltigen würde, dem dann aber von der Impotenz höchstpersönlich (ebenfalls Wolfgang Seidenberg) ein Strich durch die Rechnung gemacht wird…

    Wenn Jesus (Norman Graue) irgendwann einfach keinen Bock mehr hat, von seinem Kreuz herabsteigt und wütend von dannen stapft, ist das ja schon mal ein gutes Zeichen – schließlich ist „Der Geschmack von Leben“ ein spielfilmlanger Aufruf zur Sünde. Aber in dem von Roland Reber gewohnten Widerstreit zwischen provozierender Avantgarde und provinziellen Stammtischweisheiten (den auch das Poster sehr passend widerspiegelt) trägt diesmal öfter als sonst das Spießige den Sieg davon – so etwa in einem ganzen Abschnitt zur unsinnigen deutschen Gesetzgebung und der noch unsinnigeren Beamtensprache. Das ist einfach keine bissige Satire mehr, sondern längst so ausgelutscht wie die Parkplatzbekanntschaften, nachdem Nikki mit ihnen und ihren Schwänzen fertig ist. Reber ist hier genauso spät dran wie bei der Visualisierung des „Fi(c)ktion“-Abstimmungsaufrufs – der erinnert nämlich unweigerlich an diese Klingeltonspots, die einen vor vielen Jahren mit ihrer Auswahl an mehreren Nervtönen in jeder Werbepause aufs Neue in den Wahnsinn getrieben haben.

    Am Ende läuft in einer gästelosen Talkshow in einer Industriehalle alles auf die schon erwähnte Frage hinaus, was denn nun heutzutage einen richtigen Mann ausmacht – und da darf ein Indie-Enfant-terrible wie Roland Reber, selbst wenn es inzwischen jenseits der 60 ist, auch gerne gegen #metoo & Co. anstänkern. Aber wenn der Erkenntnisgewinn dann noch nicht einmal über die ersten drei Forumskommentare in einer x-beliebigen Internetdiskussion hinausgeht, dann ist das nicht provokant, sondern schlicht uninteressant – wobei das keinesfalls bedeutet, dass es in dem 88-minütigem Provinzregietheater-Amoklauf nicht trotzdem genügend Dinge gibt, über die sich das experimentierfreudige Kinogängerherz freuen kann. Vom schwabbeligen Swingerclub-Musical bis zur Gasmasken-Metal-Band mit der bayerisch-piefigen Lack-und-Leder-Variante des legendären Doof Warrior als Gitarristen gibt es mehr als genug Szenen in „Der Geschmack von Leben“, die man so schnell bestimmt nicht wieder vergisst – und wer möchte, darf das gerne auch als Warnung verstehen.

    Fazit: Nachdem ich alle bisherigen wtp-Produktionen ziemlich spannend fand, hat’s mir diesmal für eineinhalb Stunden gerade noch gut genug geschmeckt – aber es wird sicherlich auch viele Zuschauer geben, die sich wünschen werden, die Macher hätten vorher mehr Ananassaft getrunken, gerade weil der Roland-Reber-typische Aufruf zur sexuellen Freiheit in „Der Geschmack von Leben“ erstmals nicht konsequent progressiv, sondern über weite Strecken erstaunlich rückwärtsgewandt daherkommt.

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