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    Tyrel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tyrel

    Die Mumblecore-Version von "Get Out", in der nichts (?) passiert

    Von Martin Ramm

    In Filmen ist eigentlich immer (sofort) klar, ob eine Figur ein Rassist ist oder nicht. Natürlich gibt es auch in „12 Years A Slave“, „Get Out“ oder „BlacKkKlansman“ Abstufungen und Grautöne, aber am Ende ist Intoleranz eigentlich immer eindeutig als solche erkennbar (erst recht, wenn es zu offener Gewalt kommt). In „Tyrel“ hingegen bleiben Intoleranz und Rassismus derart subtil, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind, dass man sich als Zuschauer beim Abspann gar nicht sicher sein kann, ob man da gerade einen Film zum Thema Rassismus gesehen hat oder nicht. Wobei das vom Golden-Globe-nominierten chilenischen Regisseur und Autor Sebastián Silva („La Nana – Die Perle“, „Nasty Baby“) zumindest nahegelegt wird, wenn der einzige Schwarze in einer Gruppe von weißen Jugendfreunden beim Wikipedia-Spiel ausgerechnet das Phänomen eines Schwarzen Loches möglichst wissenschaftlich klingend erklären muss.

    Weil die Familie seiner Freundin das gemeinsame Heim in Beschlag genommen hat, kommt es Tyler (Jason Mitchell) gerade recht, dass sein Kumpel und Arbeitskollege Johnny (Christopher Abott) ihn übers Wochenende mit zu der Geburtstagsfeier seines Jugendfreundes Pete (Caleb Landry Jones) nehmen will. Das Fest findet in einem Haus im beschaulich bewaldeten und friedlich verschneiten Nirgendwo statt, wo sich eine Rotte junggebliebener Erwachsener mit reichlich Schnaps und Marihuana im Gepäck zusammengefunden hat. Doch Tyler hat von Anfang an so seine Probleme, in dem eingespielten Gefüge seinen Platz zu finden – womöglich auch deshalb, weil er der einzige Schwarze in der ansonsten ausschließlich weißen Gemeinschaft ist. Während die Aktivitäten der zunehmend betrunkenen und bekifften Gäste immer exzessiver werden, wächst zugleich auch Tylers innere Beunruhigung ...

    Keine Party ohne Gruppen-Selfie ...

    Es ist wie gesagt gar nicht so leicht, „Tyrel“ in eine bestimmte Schublade zu stecken. Aber was Sebastián Silva auf jeden Fall gelungen ist, ist eine sehr präzise Beobachtung der Dynamiken, mit denen man als „Neuer“ automatisch konfrontiert wird, wenn man in eine Gruppe hineinkommt, deren Mitglieder sich schon seit vielen Jahren kennen. Mit seinem bemerkenswert nuancierten Spiel arbeitet Jason Mitchell („Straight Outta Compton“) das befremdende Gefühl der nagenden Orientierungslosigkeit heraus, wenn man mit den für alle anderen längst als selbstverständlich wahrgenommenen Regeln einer natürlich gewachsenen Dynamik und den dazugehörigen Gruppenritualen konfrontiert wird.

    Dabei geben sich der Gastgeber und seine Freunde stets inklusiv. So fordert die Clique Tyler immer wieder (mit Nachdruck) dazu auf, an albernen Wettbewerben teilzunehmen, die sich zugleich immer auch als Spiele mit persönlichen Grenzen herausstellen – und mitunter eben womöglich auch an der Grenze zum Rassismus kratzen, wobei sich die Anwesenden dann auch gegenseitig darauf hinweisen, das doch jetzt mal lieber bleiben zu lassen. Die Protagonisten in „Tyrel“ sind überwiegend progressive, aufgeschlossene Mittzwanziger – und sie werden auch nie als etwas anderes „entlarvt“. Es gibt niemanden, den man tatsächlich guten Gewissens als „böse“ oder als „Arschloch“ titulieren könnte – und gerade diese vage Ambivalenz macht die Faszination von „Tyrel“ aus.

    Mittendrin und doch nur dabei

    Eine oft ganz nah und manchmal sogar ganz bewusst zu nah an die Figuren herangehende Handkamera sorgt nicht nur für einen nahezu dokumentarischen Gestus, sondern macht auch die wachsende Enge spürbar, in die sich Tyrel zunehmend gedrängt fühlt. Die Aufnahmen stammen von Alexis Zabe, der für seine Arbeiten stets ganz andere, aber immer einzigartige Looks entwirft (etwa für „Post Tenebras Lux“ oder „The Florida Project“). Dabei führt er die Kamera oft, als wisse er selbst nicht so genau, was eigentlich als nächstes passiert. Die Kamera reagiert, statt immer schon einen Schritt voraus zu sein. Heftige Schwenks vermitteln eine Direktheit und Intensivität, die auf stimmige Weise Tylers eigene Getriebenheit widerspiegeln. Pausenlos wird er in weitere soziale Stresssituationen geworfen und muss immer wieder aufs Neue Wege finden, mit den teils kruden Aktionen der Partygäste umzugehen, ohne als spießiger Spielverderber dazustehen.

    So wie Tyler seinem Status als „Außenstehender“ nie entkommt, so wird es auch einem Großteil des Publikums bis zum Rollen des Abspanns nicht gelingen, dem Film in die Karten zu schauen: Auch deswegen funktioniert Tyler als Protagonist so ausnehmend gut, fühlen er und der in antrainierten Sehgewohnheiten verhaftete Zuschauer sich doch ähnlich verloren und dem Geschehen ausgeliefert. Ständig erwartet man eine radikale Wendung, eben einen „Get Out“-Moment. Schließlich wird von Beginn an fleißig mit Genreversatzstücken jongliert: Ein abgeschiedenes Haus fernab der Zivilisation, fehlender Handyempfang, sich rapide anstauendes Konfliktpotential in der zunehmend enthemmten Gruppe und das Herannahen der alles verdunkelnden Nacht. Diese allseits bekannten Genre-Bausteine werden dann aber in unerwarteter Weise eingesetzt oder sogar einfach wieder fallen gelassen. Wie der Film schließlich die angestaute Spannung auflöst, entspricht ebenfalls ganz und gar nicht den konventionellen Erzählroutinen.

    Die verspätete Ankunft von Alan (Michael Cera) lockert die Situation zumindest zwischenzeitig ein wenig auf.

    Der wahre Thrill des Filmes liegt eben nicht im sklavischen Abarbeiten vermeintlich unverzichtbarer Konflikt-und-Auflösungs-Wechselspiele, sondern in den lebendigen Beziehungen zwischen den Figuren, die pausenlos zwischen neckischer Ausgelassenheit und semi-aggressiver Anspannung oszillieren und dabei bis zum Schluss unberechenbar bleiben. In Abhängigkeit von der eigenen Geduld, aber auch davon, welche Art Erfahrung man sich grundsätzlich von einem Film erhofft, kann das eine spannende, vielleicht sogar befreiende Erfahrung sein. Denn wie nur wenige Filme sonst hält „Tyrel“ einem die Beschränktheit der eigenen Erwartungen vor Augen, die man an den Aufbau einer Geschichte hat. In gleichem Maße kann die Seherfahrung aber auch für Groll ob der fast schon schadenfroh anmutenden Weise des Filmes, gemachte Versprechen konsequent nicht einzulösen, sorgen.

    Fazit: „Tyrel“ überzeugt mit seiner präzisen Beobachtung der Verdächtigkeit von Alltäglichem und fordert den Zuschauer mit seiner Anti-Dramaturgie konsequent heraus: Ist in dem Film eigentlich gar nichts passiert? Oder war das alles tatsächlich sehr schlimm? „Tyrel“ ist einer von ganz wenigen Filmen, bei denen es auf diese Frage keine (eindeutige) Antwort gibt – der Film lehnt sich nicht mal besonders in eine Richtung. Radikal provokant? Radikal langweilig? Hier liegt wirklich alles im Auge des Betrachters.

    Mitarbeit an der Kritik: Jan Felix Wuttig & Christoph Petersen

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