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    Der Fremde im Zug
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der Fremde im Zug
    Von Ulrich Behrens

    Ein Mann lässt sich von seiner Mutter die Fingernägel schneiden – und hasst seinen Vater abgrundtief. Er träumt davon, etwas Großes zu tun; er will im Leben nichts, aber auch gar nichts auslassen. Bruno Anthony (Robert Walker) heißt der Mann und ist etwa 40 Jahre alt. Seine Mutter (Marion Lorne) ist eine jener Mütter, für die ein Sohn immer der kleine Bub bleibt. Bruno schwankt gegenüber seiner Mutter zwischen inniger Abhängigkeit und Verachtung.

    Ein anderer Mann ist tief enttäuscht. Seine Frau Miriam (Kasey Rogers) bekommt ein Kind von einem anderen. Schon lange will sich Miriam scheiden lassen; doch nun, als der junge Mann namens Guy Haines (Farley Granger) Erfolge als Tennisspieler hat, hat Miriam es sich anders überlegt. Sie lehnt die Scheidung ab, die Guy nun will, der sich in die Tochter eines Senators, Anne Morton (Ruth Roman), verliebt hat, die er heiraten will. Guy ist wütend.

    Zwei Wagen halten am Bahnhof. Zwei Männer steigen aus. Man sieht nur ihre Schuhe und Hosen. Der eine hat weiße Schuhe mit schwarzem Besatz an. Die Hosen sind zu kurz. Der andere trägt dunkle Schuhe. Beide eilen zum selben Zug. Beide setzen sich an einen Tisch, stoßen mit den Füßen zusammen. Erst jetzt sieht man Guy und Bruno ganz, die sich in die Augen schauen. Bruno spricht Guy an. Bruno ist auf eine fast freundliche Art aufdringlich, fragt den bekannten Tennisspieler aus, weiß schon einiges über ihn und erfährt noch mehr. Obwohl Guy eigentlich nicht will, nimmt er die Einladung Brunos an, in dessen Abteil zusammen zu essen. Im Restaurant ist nämlich kein Platz mehr frei.

    Bruno redet. Gezielt lenkt er Guys Aufmerksamkeit auf dessen Problem: die Scheidung von Miriam, die nicht erfolgen kann, solange sie nicht einwilligt. Bruno spricht vom perfekten Mord, einem „Austausch-Mord”. Guy soll sich vorstellen, er bringe Brunos Vater um und Bruno Guys ungeliebte Frau. Die Probleme beider wären gelöst, und keiner würde in Verdacht geraten, da niemand wisse, dass beide sich kennen. Guy hält dies für einen makabren Scherz und scherzhaft tut er so, als ob er mit diesem „Austausch-Mord” einverstanden wäre, als er in Metcalf aussteigt, um Miriam dazu zu bewegen, sich endlich von ihm scheiden zu lassen.

    Kurze Zeit später findet man auf einem Rummelplatz Miriam – erwürgt. Für Guy beginnt ein Alptraum. Die Polizei verdächtigt ihn, sich der lästigen Frau entledigt zu haben. Seinem Alibi schenkt man wenig Glauben. Nur Anne, ihr Vater (Leo G. Carroll) und ihre vorlaute, aber sympathische Schwester Barbara (gespielt von Hitchcocks Tochter Patricia) halten zu Guy. Der wird nicht nur auf Schritt und Tritt abwechselnd von zwei Polizisten beobachtet. Auch Bruno passt ihn ab, gesteht ihm den Mord an Miriam und fordert nun seinerseits, Guy solle seinen Part der angeblich beiderseitigen Vereinbarung erfüllen und Brunos Vater ermorden.

    Hitchcocks „Strangers on a Train” (mit dem verfälschenden deutschen Titel „Der Fremde im Zug”) ist eine – nach einem Roman von Patricia Highsmith entstandene – exzellente Studie über die verborgenen „negativen” Gefühle, vor allem Hass und daraus resultierende Mordgedanken, in uns allen. (Psychologische) Spiegelung spielt bei Hitchcock oft eine Rolle, und in diesem Film setzt er sie visuell glänzend um. Den Mord an Miriam z.B. sehen wir durch ein Glas ihrer auf den Boden gefallenen Brille. Spiegelung meint vor allem die Verdopplung des Guten und Bösen in einem Menschen in zwei verschiedene Personen – Guy und Bruno. Bruno ist sozusagen das personifizierte Böse Guys – vice versa. Bruno drückt zunächst einmal nichts anderes aus als den inneren Wunsch Guys, Miriam endlich los zu werden, von ihr, ihrer Untreue, ihren Rachegefühlen befreit zu werden. Weil Guy dabei nicht einmal an Mord auch nur denkt, muss es sein Alter Ego aussprechen. Bruno kennt keine Grenzen, etwas zu denken, etwas zu sagen und etwas zu tun.

    Das alles funktioniert allerdings nur durch eine Art teuflichen Pakt. Dass Guy Brunos „Vertragsangebot”, Mord gegen Mord, als makabren Scherz versteht, deutet auf die ethische Integrität des Guten in ihm, spielt aber für Bruno keine Rolle. Er fordert Vertragserfüllung, taucht auf einem Fest der Familie Morton ungeladen auf, legt seine Hände um den Hals einer älteren Dame und erschrickt, als er Barbara sieht, die eine ähnliche Brille mit dicken Gläsern trägt wie Miriam. Auch in Bruno ist nicht alles vollkommen negativ. Das Gute ist in ihm in eine Art Panzer gesperrt, zu dem sozusagen der Teufel die einzigen Schlüssel besitzt. Nach dem Mord hilft Bruno – als wenn es nichts Selbstverständlicheres gebe – einem älteren blinden Mann über die Straße – so, als ob sich das eingesperrte Gute für einen Moment lang unbewusst Bahn in ihm brechen wollte.

    Die Spiegelung allerdings bezieht sich noch auf andere Personen. Miriam als böse Ehefrau hier, Anne als gute Ehefrau in spe dort. Dazwischen fungieren Barbara und in gewisser Weise auch die Polizei als Mittler, als Sucher nach der Wahrheit, als Kontrolleure des Geschehens, die jedoch überhaupt nichts unter Kontrolle haben. Sie stehen gewissermaßen als mehr oder weniger hilflose „Moderatoren” neben dem (emotionalen) Geschehen. Nur Guy selbst kann den „Fall” letztendlich lösen.

    Miriam ist tot. Guys Hochzeit mit Anne scheint nichts im Wege zu stehen – außer dem schlechten Gewissen, den Gewissensbissen des Mitwissers am Mord, Guy, der niemandem über die Existenz Brunos und seine Täterschaft erzählen darf, weil er sonst gar als Auftraggeber des Mordes verdächtigt würde. Bruno dagegen ist in einer ähnlich misslichen Lage. Denn Guy weigert sich, Brunos Vater zu erschießen. Das ganze „Komplott” des Bösen gerät in Gefahr zu scheitern.

    Die Auflösung dieses äußeren wie inneren Konflikts personalisiert sich u.a. in Anne. Sie entdeckt die Wahrheit. Doch Bruno, ob nun gesehen als Personifizierung des Bösen von Guy oder als „Anderer”, als Psychopath, hat einen Trumpf im Ärmel: das Feuerzeug Guys mit dessen Initialen. Dieser Trumpf unterstützt Bruno scheinbar bei seiner Absicht, Guy zum Mord zu bewegen.

    Hitchcock drehte zwei Szenen des Films in verschiedenen Versionen. Die eine Szene: Guy erklärt sich plötzlich bereit, Brunos Vater des nachts zu erschießen. Man sieht ihn in das Haus eindringen, bis er vor der Tür des väterlichen Schlafzimmers steht. In der letztendlich veröffentlichten Version dieser Szene spürt man instinktiv, dass Guy Brunos Vater nur vor seinem Sohn warnen will. In der anderen Szene ist dies nicht so klar; dort entsteht ein eher zwiespältiger Eindruck (wird er, oder wird er nicht?). Die zweite Szene ist die Schlusssequenz des Films. Der Film endet nicht mit einem Telefonat zwischen Guy und Anne und deren strahlendem Lächeln. Die letzte Szene spielt in einem Zug. Anne und Guy gegenüber sitzt ein Pfarrer, der Guy fragt, ob er nicht der bekannte Tennisspieler sei. Guy will schon freundlich antworten, doch dann erinnert er sich an seine letzte Zug-Bekanntschaft, Bruno, steht mit Anne auf und verlässt das Abteil. Eine jener typischen ironisierenden Schlussszenen Hitchcocks, in der er den Ernst der Geschichte humorvoll auflöst.

    Erwähnt sei schließlich Hitchcocks Vorliebe für Geschichten, die in Zügen spielen. Die Widersprüchlichkeit zwischen dem „sicheren” Reiseweg von A nach B wird durch die entsprechende Geschichte konterkariert: Als Guy Bruno über den Weg läuft, ändert sich sein ganzer Lebensweg. Der Zug fährt nach Metcalf, aber Guy kann Bruno nicht entkommen. Der Zug, der Wege öffnet, schließt doch zugleich Fluchtmöglichkeiten aus.

    Ein besonderes Lob gilt Robert Walker, der kurze Zeit nach Fertigstellung des Films während der Dreharbeiten zu seinem nächsten Film verstarb und der Bruno Anthony in beispielhafter Weise als Inkarnation des grenzenlos Bösen spielt, aber dennoch zugleich als einen Mann, dessen Gefühle man durchaus nachvollziehen kann. Gerade in dieser schauspielerischen Leistung wird das Nebeneinander von Gut und Böse zu einem Tatbestand des eigenen Inneren.

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