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    Hereditary - Das Vermächtnis
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Hereditary - Das Vermächtnis
    Von Christoph Petersen

    Schon nach der ersten Kamerafahrt ist klar, dass sich hier jemand ordentlich was vorgenommen hat. Ein Blick aus dem Fenster hinüber zum Baumhaus, ein Schwenk hin zu einer der Modellbauten, mit denen die Künstlerin Annie Graham (Toni Collette) die Realität unter dem Motto Small Worlds erstaunlich wirklichkeitsgetreu im Miniaturformat nachbildet. Die Kamera fährt hinein in einen Nachbau ihres eigenen am Waldrand gelegenen Hauses, bis in das Zimmer ihres Sohnes Peter (Alex Wolff), der da plötzlich schlafend in seinem Bett liegt. Sein Vater Steve (Gabriel Byrne) kommt herein und weckt ihn. Eine an Harmlosigkeit eigentlich kaum zu übertreffende Szene. Aber die vorangegangene Kamerafahrt eröffnet nicht nur die Möglichkeit, dass sich alles Weitere tatsächlich in einem kleinen Puppenhaus auf einem Dachboden abspielt, sie beschwört zugleich auch eine unheilvolle Atmosphäre herauf, die in den folgenden zwei Stunden zu einem unerbittlichen Orkan aus Schmerz und Schrecken anschwillt, dem man sich auch als Zuschauer kaum entziehen können wird.

    Nach dieser ersten Szene des Horror-Schockers „Hereditary – Das Vermächtnis“, der bereits bei seiner Weltpremiere auf dem Sundance Filmfestival für mächtig Aufruhr gesorgt hat, gibt es eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Der Film wird entweder ein brillantes Meisterwerk oder prätentiöse Kunstkacke. Zum Glück ist ersteres der Fall. Der Langfilmdebütant Ari Aster hat in seinem Skript nicht nur extrem effektiv einige tragische Schicksalsschläge in seiner Familie verarbeitet, er hat den Film auch schon Einstellung für Einstellung durchgeplant, lange bevor ihm jemand das nötige Geld oder grünes Licht für die Produktion gegeben hat. Diesen unbedingten Willen zur Perfektion merkt man dem Ergebnis in jedem Moment an – uns ist absolut bewusst, dass der Vergleich im ersten Moment vollkommen übertrieben und vielleicht sogar ein wenig lächerlich klingt, aber wir wagen ihn trotzdem: „Hereditary“ ist der womöglich bestinszenierte Horrorfilm seit Stanley Kubricks „Shining“ (und der ist inzwischen auch schon 38 Jahre alt).

    Alles beginnt mit einer eingeblendeten Todesanzeige. Die Familienmatriarchin Ellen ist im Alter von 78 Jahren verstorben. Während ihre Tochter Annie und ihr Enkelsohn Peter eher damit zu kämpfen haben, dass sie nicht so traurig sind, wie es sich womöglich in solch einer Situation geziemt, nimmt der Tod vor allem Enkeltochter Charlie (Milly Shapiro) ganz besonders mit, die sich fortan selbst bei Eiseskälte zum Schlafen in das Baumhaus schleicht. Irgendetwas stimmt hier nicht. Und während sich im Haus immer mehr Schmerz und Panik anstaut, die da irgendwann auch einfach mal herausbrechen müssen, bekommt Annie erst dann mit, was für ein Vermächtnis ihre Mutter der Familie da hinterlassen hat, als es eigentlich schon viel zu spät ist…

    Selten hat man Schmerz im Kino so unmittelbar gefühlt wie in „Hereditary – Das Vermächtnis“ – und dabei geht es nicht um solche Folterarien wie in „Martyrs“, sondern ganz einfach um den Schmerz, der sich in einer Familie und ihrem Heim mit der Zeit eben ansammelt. Nach etwa einer Dreiviertelstunde gibt es einen unendlich schockierenden Moment, bei dem es kein Spoiler ist, wenn man an dieser Stelle verrät, dass er von Alfred Hitchcocks „Psycho“ inspiriert wurde, weil man diese Verbindung eh erst im Nachhinein verstehen kann. Am Ende der Szene starrt jedenfalls einer der Protagonisten mit wässrigen Augen einfach nur noch leer nach vorne, in seinem Ausdruck mischt sich das blanke Entsetzen und die absolute Überforderung. Das ist Horror, der einem selbst dann noch ganz tief ins Mark fährt und sich dort bis lange nach dem Verlassen des Kinosaals festsetzt, wenn man bei den üblichen mechanischen Tricks des Genres wie Jump Scares schon längst nicht mehr aus seinem Sitz schreckt.

    „Hereditary“ ist auch deshalb eine solch faszinierende Erfahrung, weil man selbst als Zuschauer lange Zeit gar nicht greifen kann, wo genau der Schrecken eigentlich herkommt. Ari Aster hat ein beunruhigendes Talent dafür, gerade bei den Zimmern des Familienhauses die Bildausschnitte so zu wählen, dass sie sich irgendwie verkehrt und deshalb so unheilvoll anfühlen. In diesem Zuhause muss ja irgendwann der Wahnsinn einkehren. Dazu kommen noch die Miniaturen, die überall im Haus herumstehen, während Annie auf dem Dachboden an ihrer nächsten Ausstellung arbeitet. Dabei fallen die neuen Modelle parallel zur zunehmend unheilbringenden Atmosphäre ebenfalls immer verstörender aus. Eines zeigt etwa Annie selbst bei dem Versuch, ihr Baby zu stillen, während ihre danebenstehende Mutter sich ebenfalls obenrum freigemacht hat, um dem Kind stattdessen ihre Brust darzubieten.

    Dies ist ein solch effektiver psychologischer Horror, der einige seiner frühen Höhepunkte bei Annies Nachtwanderungen in das Zimmer ihres schlafenden Sohnes erlebt, dass es am Ende fast schon einer erlösenden Katharsis gleichkommt, wenn „Hereditary“ im finalen Drittel endgültig in offenkundig okkulte Gruselgefilde hinübergleitet. Auch dabei macht Ari Aster keine halben Sachen, wobei selbst seine absurdesten und exzessivsten Einfälle dank der starken Vorarbeit nie unfreiwillig komisch wirken, sondern ihren Teil zur unaufhaltsamen Eskalation des Schreckens beitragen (ja, selbst der nackte Mann, der mit seinem Schrumpelpenis plötzlich in der Ecke des Zimmers steht). Wobei es in „Hereditary“ auch eine ganze Menge schön schwarzen Humor gibt - und dazu zählt sicherlich auch, ausgerechnet rhythmisches Glucksen als ein unfassbar unangenehmes Gruselgeräusch zu nutzen. Das wird man nach „Hereditary“ sicherlich nie wieder mit denselben Ohren hören können.

    Mit Ausnahme der Darbietung von Gabriel Byrne („Die üblichen Verdächtigen“), der quasi den Felsen in der Brandung verkörpert und sich selbst am Ende noch irgendwie zusammenreißt, ist „Hereditary“ regelrecht gespickt mit unvergleichlichen Tour-de-Force-Performances. Gerade im Fall von Toni Collette wäre alles andere als eine weitere Oscarnominierung (nach ihrer Nominierung als Beste Nebendarstellerin in „The Sixth Sense“) eine absolute Frechheit – wie sie hier nach und nach in die Schuld, den Schmerz und den Wahnsinn abgleitet, mit allem kämpfend, was sie hat, ist schlichtweg atemberaubend ambivalent. Ähnliches gilt für Alex Wolff, der mit „Jumanji: Willkommen im Jungle“ zwar gerade sehr erfolgreich Blockbuster-Luft geschnuppert hat, aber mit seinem herausragenden Talent auch dem Indie-Sektor hoffentlich noch lange erhalten bleiben wird. Und wenn Newcomerin Milly Shapiro, die bisher vor allem am Broadway erfolgreich war, als Charlie gegen das Fenster geknallten Vögeln mit Schere und Unschuldsmine die Köpfe abschneidet, dann kreiert sie in dem Moment ein Horrorkind für die Ewigkeit.

    Fazit: „Hereditary – Das Vermächtnis“ ist mehr als einfach nur der beste Horrorfilm seit Jahren.

    P.S.: Wir hatten die seltene Chance, den Film vor dem Schreiben der Kritik zwei Mal anzusehen – und erst beim zweiten Mal wird einem so richtig klar, dass die etlichen starken Charaktermomente der ersten Hälfte nicht nur der Entwicklung der Figuren und der Atmosphäre dienen, sondern auch die Wendungen des Finales praktisch schon vorwegnehmen (ohne dass man die Hinweise beim ersten Sehen bereits vollständig entschlüsseln könnte). Unheimlich clever ist „Hereditary“ also auch noch, weshalb sich ein zweites Ansehen auf jeden Fall lohnt.

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