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    They Shall Not Grow Old
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    They Shall Not Grow Old

    Mitten im Inferno

    Von Oliver Kube

    Genre-Fans verehren Peter Jackson als den geistigen Vater solcher Kultfilme wie „Bad Taste“, „Meet The Feebles“ und „Braindead“. Der Rest der Welt kennt ihn als das mehrfach oscarprämierte Genie hinter den Tolkien-Trilogien „Der Herr der Ringe“ und „Der Hobbit“. Trotz seiner 1995er-Mockumentary „Forgotten Silver - Kein Oscar für Mr. McKenzie“ und einer Produzententätigkeit beim hervorragenden „West Of Memphis“ war er bisher als Dokumentarfilmer jedoch noch ein eher unbeschriebenes Blatt. Mit dem tief bewegenden, in Großbritannien zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs veröffentlichten „They Shall Not Grow Old“ beweist sich der Neuseeländer nun allerdings auch noch auf diesem Gebiet als Koryphäe. Jackson, dessen Großvater von 1910 bis 1919 in der britischen Armee diente, gelingt es dank einer sagenhaften technischen Aufarbeitung, uraltes Bildmaterial brandaktuell wirken zu lassen. So schrumpft die Distanz und der Zuschauer fühlt sich emotional weit mehr involviert und betroffen, als es bei historischen Kriegsaufnahmen überhaupt möglich schien.

    Die vom britischen Imperial War Museum in Auftrag gegebene Produktion beginnt mit Aufnahmen vom 4. August 1914. An diesem Datum erklärte Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg, nachdem dessen Truppen in Belgien einmarschiert waren und den Kampf gegen Frankreich aufgenommen hatten. Es gibt keine Einführung, keinen erläuternden Erzähler aus dem Off, keine Texteinblendungen oder ähnliches. Stattdessen ein Kaltstart mit Audio-Aufnahmen aus den BBC-Archiven, auf denen sich Soldaten der Royal Army Jahre nach dem Krieg an diesen Tag zurückerinnern. Die Stimmen der insgesamt 120 Veteranen werden den Zuschauer auch durch die Schlachten, deren Ausmaß und Brutalität von keinem der damals oft noch minderjährigen Männer erwartet wurden, begleiten. Nach etwa 25 Minuten beginnt für die Rekruten, nach dem Verfliegen der patriotischen Euphorie und einer viel zu kurzen Ausbildung daheim, der bittere und in vielen Fällen tödliche Ernst des Grabenkrieges in Frankreich - und das bis hierhin schwarzweiße Archivmaterial erstrahlt plötzlich in Farbe…

    Jacksons Entscheidung, die aus mehr als 100 Stunden bewegter, aber stummer Bilder ausgewählten Aufnahmen nicht nur nachzukolorieren, sondern sie auch um Geräusche sowie gelegentliche Hintergrundstimmen zu ergänzen war mutig und schon Vorfeld alles andere als unumstritten. Puristen und Zyniker warfen ihm ungesehen Geschichtsverfälschung vor. Doch der Mann aus Wellington ließ sich in seiner Vision nicht beirren. Und das ist gut so. Sehr gut sogar. Denn in dem Moment, in dem er Farbe in die Bilder hereinlässt, wird das, was bis dahin noch wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit wirkt, das mit unserer Gegenwart nichts zu tun hat und zu dem der Zuschauer keine echte Bindung findet, plötzlich real. Die eben noch weit entfernt erscheinenden Ereignisse sind nun auch für den Zuschauer im 21. Jahrhundert so nah und leicht erfassbar wie wohl nie zuvor in Schilderungen des globalen Konfliktes, der weltweit mehr als 70 Millionen Soldaten involvierte und mehr als 15 Millionen direkte Todesopfer forderte.

    Die Bildqualität ist atemberaubend. Jeder einzelne Frame wurde vom Effektteam digital restauriert, geschärft, in Widescreen-Format transferiert und mit lebensechten Farben versehen. Mittlerweile ist es mit Know-how und den nötigen technischen Mitteln offenbar möglich, auch mehr als ein Jahrhundert alte Aufnahmen lebensecht und aktuell aussehen zu lassen. Das hat rein gar nicht mehr mit den sich völlig falsch anfühlenden, vom Inhalt ablenkenden Versuchen aus den 1980ern und 90ern zu tun, als Filmklassiker wie „Ist das Leben nicht schön“ oder „Die Nacht der lebenden Toten“ zunächst noch von Hand, später mit vergleichsweise kruden Computerprogrammen überarbeitet wurden und die Ergebnisse nahezu durch die Bank enttäuschten.

    Dazu kommen, neben dem Klang von Haubitzenfeuer und Explosionen sowie der angenehm sparsam eingesetzten instrumentierten Musik des neuseeländischen Trios Plan 9, noch Klangeffekte und von Schauspielern eingesprochene Hintergrundstimmen. Was in den Jahren 1914 bis 1918 gedreht wurde, wirkt auch deshalb wie von heute. Der Zuschauer überwindet mit dieser audiovisuellen Hilfestellung spielend die zeitliche Distanz. Er fühlt sich, als würde er mit diesen Jungen, die auffällig oft direkt in die Kamera schauen, durch den Matsch waten oder durch das ausgeklügelte Schützengrabensystem irren, sich mit ihnen vor Scharfschützen verstecken, vor Granateneinschlägen ducken oder panisch eine Gasmaske überstreifen, mit der such der ständige Geruch von Verfall, Verwesung und Sprengstoff trotzdem nicht mehr aus der Nase bekommen lässt. Wenn die überlebenden Kämpfer dann aus dem Off die Schlachten Mann gegen Mann mit Schusswaffen, Bajonetten oder bloßen Händen schildern, gibt es davon natürlich kaum Bildmaterial. Diese Sequenzen werden hauptsächlich mit zeitgenössischen Zeichnungen, aber auch einigen Fotografien illustriert. Was aufgrund der teils haarsträubenden Wortberichte aber mehr als ausreichend ist.

    Angesichts einer so packenden Aufarbeitung ist es etwas schade, dass die Dokumentation nur eine Hälfte des Konflikts zeigen kann. Natürlich wäre es interessant, auch noch die deutsche Seite auf diese atemberaubende Weise präsentiert zu sehen und zu hören. Denn schon die ausführlichen Schilderungen der britischen Veteranen über ihre Gefühle gegenüber den Gegnern sind immens berührend. Von Respekt und Bewunderung ist hier ebenso die Rede wie von Mitgefühl für die unzähligen Verletzten und Toten – auch beim Feind. Rachegelüste oder gar Hass scheint selbst Jahre danach keiner dieser einfachen Engländer, Schotten und Waliser empfunden zu haben. Sie wussten, dass es den ebenso jungen, ebenso verängstigten und ebenso blutenden Burschen aus Bayern, Preußen oder Württemberg hinter dem sie trennenden Stacheldrahtwall genauso dreckig ergangen war wie ihnen. Nur waren diese aus dem ganzen Inferno sogar noch als Unterlegene hervorgegangen…

    Wenn die Gefechte im Film endlich vorbei sind und die glücklich siegreichen, aber für den Rest ihrer Tage gezeichneten Männer nach Hause kommen, gehen die Bilder wieder in das klassische Schwarzweiß vom Beginn über. Vor dem Krieg hatten sie sich in den Straßen Londons und anderer Städte mit abertausenden Idealisten vor Rekrutierungsbüros angestellt, ihre Uniformen erhalten und traten zu ersten Appellen an. Nun sind sie zurück in ihrer alten Realität und versuchen, in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Sie sind wieder bei den Eltern, ihren Liebsten, Freunden, Kollegen und Nachbarn, die keine Ahnung davon haben, was ihnen an der Front widerfahren war. Wer sich „They Shall Not Grow Old“ ansieht, hat ihnen diesbezüglich einiges voraus, auch mehr als 100 Jahre danach.

    Fazit: Der Effekt von Peter Jacksons Dokumentation auf den Zuschauer ist erstaunlich und absolut erlebenswert. Der Film ist mitreißend, tief berührend und dürfte den Zuschauer in Gedanken noch über Tage verfolgen – und zwar weit mehr als so ziemlich alle fiktiven Kriegsfilme es vermögen.

     

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