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    Unser Team - Nossa Chape
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Unser Team - Nossa Chape

    Neuanfang unter Tränen

    Von Oliver Kube

    Für viele Menschen ist Fußball mehr als nur ein Spiel! Ein bestimmter Klub wird zum Lebensinhalt, fast zu einer Art Religion. Und solange Siege eingefahren werden, ist die Welt in bester Ordnung. Doch was passiert, wenn das Team in einer Krise steckt und einfach nicht gewinnen kann? Dann ist der Alltag eines Fans die reinste Hölle. Eine dieser Mannschaften, die das Blut zum Kochen bringen und ganze Landstriche in ihren Bann ziehen, ist Associação Chapecoense de Futebol aus der ersten brasilianischen Liga. Die US-Regisseure Jeff ZimbalistMichael Zimbalist und Julián Duque widmen ihre mit einer erstaunlichen Spannungskurve versehene Doku „Unser Team – Nossa Chape“ diesem Klub, der 2016 fast sein komplettes Team bei einem Flugzeugabsturz verlor. Der emotional fesselnde Film zeigt den Schock und die Trauerarbeit von Hinterbliebenen und Anhängern, aber auch, wie in nur wenigen Wochen eine Herkulesaufgabe bewältigt wurde. Eine komplett neue Truppe wurde für die kommende Saison regelrecht aus dem Boden gestampft, die dann auch noch umgehend wieder sportliche Erfolge einfahren musste, um das Fortbestehen zu sichern. Allerdings vergaß man dabei von Seiten der Vereinsführung zunächst den vorher vorhandenen und von allen Beteiligten so geschätzten familiären Geist des vergleichsweisen kleinen Vereins…

    Wir schreiben den 28. November 2016: Noch vor ein paar Jahren dümpelte Chape, wie der Verein aus der tief im sozialschwachen Süden des riesigen Landes gelegenen Provinzstadt Chapecó genannt wird, in der Amateur-Liga. Mit wenig Geld, aber viel Geschick, großem Engagement und einem erstaunlichen Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Akteuren und ihren Fans schaffte es die Truppe ins brasilianische Fußball-Oberhaus. Darüber hinaus qualifizierte man sich sogar für die Copa Sudamericana, das südamerikanische Pendant zur Europa League, und erreichte auf Anhieb das Finale des prestigeträchtigen Wettbewerbs. Dieser potenzielle Höhepunkt sollte allerdings zum schwärzesten Tag der Vereinsgeschichte werden: Das Flugzeug mit der Mannschaft und dem nahezu kompletten Vorstand stürzte im Anflug auf den Austragungsort in Kolumbien ab. Nur sechs Menschen, darunter drei Spieler, überlebten den Crash teilweise schwer verletzt. Wie, wenn überhaupt, sollte es für den Verein, der eben noch der ganze Stolz einer ansonsten eher trostlosen Region war, nach dieser Katastrophe weitergehen?

    19 Spieler, zehn Vorstandsmitglieder und fast der komplette Betreuer-Stab verloren beim Absturz des Fluges 2933 ihr Leben. Dem Zuschauer bricht es das Herz, erst den wie durch ein Wunder noch lebenden, auf Krücken humpelnden, von Pflastern und Verbänden übersäten Innenverteidiger Hélio Neto bei einer Pressekonferenz über seine verstorbenen Kameraden, dann Witwen oder Eltern über ihre Liebsten in Einzelinterviews reden zu hören. Sie sprechen über deren Träume, Wünsche und Ziele, aber auch über kleine Fehler und dumme Angewohnheiten. Die Aussagen auch ein Jahr nach dem Unglück zum Zeitpunkt der Dreharbeiten weiterhin sichtlich mitgenommenen Hinterbliebenen werden von den Filmemachern immer wieder mit Archivaufnahmen der Männer unterlegt.

    Wir sehen sie gemeinsam auf dem Feld kämpfen, jubeln und sich umarmen. Oder es gibt private Bilder, in denen diese jungen, vitalen Kerle mit ihren Kindern spielen, ihre Mütter auf die Wange küssen oder in der Freizeit miteinander herumalbern – teilweise in Zeitlupe und mit schwermütiger Begleitmusik, bis dem Letzten klar wird, dass sie alle nicht mehr am Leben sind. Zyniker mögen das manipulativ nennen, aber es funktioniert. Es dauert keine Viertelstunde, da sind dem Publikum diese Sportler, von deren Namen es kurz zuvor wohl nur in den seltensten Fällen schon einmal gehört hatte, fest ans Herz gewachsen. Selbst bei abgebrühten Fußballfans dürften sich hier die ersten Tränen ihren Weg bahnen. Und es werden im Verlauf der insgesamt 102 Minuten sicherlich noch weitere folgen.

    Als die Nachricht vom Unglück bekannt wird, scheint ganz Chapecó vorerst im Schock zu erstarren. Doch dann ergreifen Einzelne die Initiative: Sie rufen ihre Freunde zusammen und beschließen, aus allen Ecken der Gegend zum Stadion zu ziehen. Gemeinsam lässt sich dieser Verlust eher verarbeiten oder vielleicht erst einmal nur begreifen. Es ist berührend zu sehen, wie sich die Menschen – vom Bürgermeister über Fanclub-Mitglieder bis hin zur 80-jährigen Rentnerin – um den Klub scharen. Er war es, der sie mit seinen Erfolgen sowie seinen Idealen von Zusammenhalt und purer Freude am Spiel vereinte, der ihnen Selbstbewusstsein und Freude in ihrem kargen Leben gab. Auf der Leinwand wirkt es, als habe die Stadt ganz einfach beschlossen, dass dieses Gefühl auf keinen Fall mit der Mannschaft sterben dürfe.

    Weil neben Spielern und Betreuern auch ein Großteil der Vorstandmitglieder zu den Toten zählten, stand der Klub außerdem führungslos da. Anstatt zu verzweifeln und aufzugeben, traten beinahe augenblicklich Leute aus der dritten oder vierten Reihe nach vorn. Sie mochten bisher nur niedere Ehrenämter im täglichen Geschäft erledigt und keinerlei Erfahrung damit haben, einen international auftretenden Verein zu leiten – doch sie waren umgehend bereit, alles zu tun, um Chapecoense nicht untergehen zu lassen. Die Männer und Frauen, die eigentlich kleine Kioske und den familiären Haushalt führten oder ihren Ruhestand genießen wollten, machten sich an die stressige, nahezu aussichtslos erscheinende Aufgabe, eine neue Mannschaft zusammenzustellen, die für die in wenigen Wochen beginnende neue Saison das grüne Chape-Trikot tragen konnte. Hautnah ist die Kamera bei Strategiesitzungen dabei, fängt ein, wie die übernächtigt wirkenden, noch immer um ihre toten Freunde trauernden Verantwortlichen sich verzweifelt die Haare raufen. Denn trotz seines bemerkenswerten Aufstiegs hatte der Verein kaum finanzielle Rücklagen. Wie auch? In dieser Ecke des ohnehin nicht gerade reichen Landes können nur geringe Eintrittspreise verlangt werden. Auch sitzen die Sponsorengelder hier nicht so locker wie etwa in Rio de Janeiro oder São Paulo.

    Die ersten Matches verliert das zusammengewürfelte, sich in diversen, jeweils kurz hineingeschnittenen Spielszenen teils desolat präsentierende Team unter dem dennoch begeisterten Beifall eines wöchentlich brechend vollen Stadions. In der 71. Minute gedenken die Zuschauer jedes Mal den 71 Toten mit einem anhaltenden, tosenden Applaus. Als sich nach diversen Begegnungen keine Besserung abzeichnet, verändert sich die Stimmungslage allerdings mehr und mehr. Das in den letzten Jahren so erfolgsverwöhnte Publikum äußert offen seinen Unmut durch frustriertes Gestöhne, laute Pfiffe und Buhrufe. Der Druck von den Rängen auf die ohnehin nicht gerade vor Selbstvertrauen strotzenden Athleten wird stetig größer. Das von den drei überlebenden Spielern angeführte Gebet vor jedem Spiel wirkt hier wie ein ebenso verzweifeltes wie aussichtsloses Flehen darum, doch endlich einmal wieder zu gewinnen.

    Irgendwann ergreift der neue Trainer die Initiative und zeigt sich als Pragmatiker. Mit Zustimmung der ratlosen Vereinsführung ändert er den Kurs. Ab sofort wird sich ganz professionell nur noch auf die Zukunft konzentriert; die Toten und die Tragödie rücken weit in den Hintergrund. Auch der Kontakt der drei Rekonvaleszenten zu den aktuellen Spielern wird hinter den Kulissen auf das Allernötigste beschränkt. Sie werden allein für Marketingkampagnen oder als öffentliche Gesichter von Chapes Social-Media-Auftritt benötigt. Den sensiblen Neto trifft diese Neuausrichtung seines Vereins hart. Erst jetzt dämmert es ihm, dass die Zeiten, in denen er und die anderen Spieler nicht nur ein Team, sondern echte Freunde waren, endgültig vorbei sind. Wieder bauen die Regisseure mit Handys gefilmte Archivbilder der lachenden, feiernden und nun toten Kameraden ein. Wieder verfehlen diese ihre Wirkung beim Zuschauer nicht.

    Zweifellos musste man das schreckliche Ereignis bis zu einem gewissen Grad hinter sich lassen, damit der Verein sich erholen und neu beginnen konnte. Die harsche Art, wie dies geschah, ist für den Zuschauer vor der Leinwand aber beinahe ebenso schockierend wie für Neto und die zwei weiteren überlebenden Spieler, die vor der Doku-Kamera offen mit dem Gedanken spielen, sich komplett von Chape zurückzuziehen. Auch weil der Klub sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr um die Witwen und Kinder ihrer toten Kameraden kümmert. Alles wird dem Kampf gegen den drohenden sportlichen Absturz untergeordnet. Zumindest auf dem Platz trägt der neue Ansatz aber tatsächlich Früchte. Die Truppe fährt erste Siege ein und rettet sich aus der Abstiegszone. Derweil geht der weltweite Verkauf von Merchandise-Artikeln– noch immer im Nachhall des Absturzes – durch die Decke. Die Tore fallen und die Kassen klingeln also. Doch um welchen Preis? Zum Glück ist das aber nicht die letzte Wendung in dieser ebenso tragischen wie spannenden Fußball-Geschichte – und so steht dem Zuschauer am Ende des Films wie schon zu Beginn wieder das Wasser in den Augen…

    Fazit: Heulen bei einer Sport-Doku? In diesem Fall ist das nahezu unausweichlich. So ergreifend kann Fußball nicht nur im Stadion, sondern auch im Kino sein.

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