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    Pelikanblut - Aus Liebe zu meiner Tochter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Pelikanblut - Aus Liebe zu meiner Tochter

    An der Grenze zum Horror

    Von Christoph Petersen

    „Deep Impact“ und „Armaggedon“, „Volcano“ und „Dante’s Peak“, „Scott & Huutsch“ und „Mein Partner mit der kalten Schnauze“ – die Kinogeschichte ist voll von solchen Doppelgänger-Produktionen, bei denen zwei Studios oder Filmemacher zur selben Zeit auf dasselbe Thema angesprungen sind. Jetzt gibt es noch einen weiteren Fall – diesmal handelt es sich dabei allerdings nicht um Hollywood-Blockbuster, sondern um zwei der international prestigeträchtigsten deutschen Filme des Jahres: „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt, der auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde und zudem als deutscher Vertreter ins anstehende Oscar-Rennen gehen wird, handelt von der neunjährigen Benni, die so schwer traumatisiert ist, dass sie das hiesige Fürsorgesystem mit ihren Ausrastern nicht nur an seine Grenzen bringt, sondern es – wie der Titel schon sagt – regelrecht sprengt.

    In Katrin GebbesPelikanblut“, dem einzigen deutschen Beitrag im Programm der Filmfestspiele in Venedig 2019, ist das traumatisierte Kind sogar erst fünf Jahre alt. Aber auch wenn sich alles um ein Mädchen im Kindergartenalter dreht, ist „Pelikanblut“ in vielerlei Hinsicht sogar noch extremer: Nicht nur sind die Ausraster von Raya, die nach einem frühkindlichen Traumata keine Empathie und keine Liebe mehr empfinden kann, noch einmal deutlich heftiger. Im Gegensatz zu „Systemsprenger“, in dem die ganze Ausweglosigkeit der Situation nur wie der pure Horror erscheint, verwendet Katrin Gebbe nach ihrem Debüt „Tore tanzt“ erneut etliche Stilmittel des Genrekinos - von nächtlichen Nebelschwaden bis zur Spannungsinszenierung der Anfälle von Raya. In diesen wirkt die Fünfjährige deswegen teilweise sogar wie ein besessenes Geister-Horror-Kind oder ein (Nachwuchs-)Killer aus einem Slasher-Film. Und wem das noch nicht provokant genug erscheint, für den gibt es dann noch eine Auflösung, die das Publikum endgültig spalten wird.

    Wiebke greift zu immer extremeren Methoden, um ihre Tochter womöglich doch noch zu heilen.

    Wiebke (Nina Hoss), die allein einen Reiterhof betreibt, auf dem unter anderem auch eine ganze Pferde-Polizeistaffel für den Einsatz bei Demonstrationen trainiert, hat mit Nicolina (Adelia-Constance Ocleppo) vor einigen Jahren schon mal eine Tochter aus dem osteuropäischen Ausland adoptiert. Ein voller Erfolg – die beiden kommen super miteinander klar. Aber bei der fünfjährigen Raya (Katerina Lipovska) läuft es weniger rund. Nach ein paar schönen ersten Stunden rastet das Mädchen immer wieder aus, sie schmiert das ganze Bad mit Kot voll, spießt tote Tiere auf und zwingt offenbar systematisch schwächere Kinder zu „Doktorspielen“, bei denen sie ihnen etwa Äste in den After einführt. Schließlich muss sogar ihr Kinderzimmer mit einer eigenen Alarmanlage gesichert werden. Aber auch als die Neurologen ihr erklären, dass sich das Verhalten vermutlich nicht mehr bessern wird und sie ihr Adoptivkind lieber in eine spezialisierte Einrichtung geben sollte, kämpft Wiebke weiter – und zwar mit immer extremeren Methoden ...

    Dass die wenig subtile Metapher von der Pferdeflüsterin, die ihre ganze Karriere hindurch erfolgreich mit traumatisierten Tieren gearbeitet hat, aber nun von ihrer eigenen traumatisierten Adoptivtochter an ihre Grenzen und weit darüber hinaus getrieben wird, nicht allzu platt wirkt, liegt vor allem an der einmal mehr überragenden Nina Hoss („Phoenix“): Ihre Tour-de-Force-Performance als aufopferungsvolle Mutter, die auch für ihre erst seit wenigen Wochen bei ihr wohnende Adoptivtochter wirklich alles zu tun bereit ist, reißt von Anfang an mit – selbst wenn man ihr wie die meisten ihrer Freunde und Bekannte nur raten möchte, die Sache doch einfach sein zu lassen. Wiebke ist trotz ihrer bis zur Selbstaufgabe reichenden Unablässigkeit übrigens keineswegs naiv: Sie glaubt nicht einfach, dass nur mit ausreichend Liebe schon alles wieder gut werden wird, sie legt die vom Arzt angedeutete Möglichkeit eines medizinischen Wunders nur etwas Eigenwilliger und Extremer aus, als es wohl die allermeisten anderen Menschen tun würden. Fast wie die titelgebende Pelikanmutter eben.

    Harte Szenen und ein kontroverses Ende

    Diese hängt nämlich an der Wand des osteuropäischen Kinderheims, in dem Wiebke ihre zweite Tochter in Empfang nimmt. Das Relief zeigt eine Pelikanmutter, die sich selbst die Brust auftrennt, um mit dem Blut ihre beiden toten Kinder wieder zum Leben zu erwecken. Ein zu diesem frühen Zeitpunkt im Film überraschend harsches Motiv, das einen aber zugleich sehr stimmig auf die weitere Entwicklung der Geschichte vorbereitet. Wer ihr vor sechs Jahren bei der Premiere in Cannes gleichermaßen bejubeltes wie ausgebuhtes Debüt „Tore tanzt“ gesehen hat, in dem ein Jesus-Fan das mit dem Hinhalten der anderen Backe so wörtlich nimmt, dass er sich fast schon freiwillig von einer Schrebergarten-Familie zu Tode quälen lässt, weiß schließlich ohnehin, dass Gebbe kein Problem mit extremeren Szenen hat.

    Aber selbst bei Zuschauern, die das Erstlingswerk der Filmemacherin nicht kennen, dürfte sich durch die vielen Horror-Anleihen bei der Inszenierung schnell der Gedanke breitmachen, dass hier wirklich jederzeit etwas Schreckliches passieren könnte und Raya zum Beispiel in bester Michael-Myers-Manier ihre Adoptivschwester absticht. Die Folge: Während „Systemsprenger“ ja gerade deshalb so herzzerreißend ist, weil man Benni in jeder Sekunde alle Daumen für ihre Besserung drückt, aber im selben Moment bereits ahnt, dass das alles leider eh nichts bringen wird, führt Gebbe den Kinobesucher regelrecht in Versuchung, dem kleinen Mädchen ein Stück weit ihre Menschlichkeit abzusprechen – eine herausfordernde Provokation. „Pelikanblut“ bringt so nicht nur Wiebke, sondern auch den involvierten Zuschauer immer wieder an den Rand des Nervenzusammenbruchs – bis hin zu einer Auflösung, die man provokant, plötzlich oder auch einfach nur verantwortungslos finden kann.

    Fazit: Ein provokant-herausforderndes Drama mit einer grandiosen Nina Hoss, das sein Publikum – spätestens mit seinem Ende – in zwei Lager spalten wird.

    Wir haben „Pelikanblut“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Eröffnungsfilm der Reihe Orizzonti gezeigt wurde.

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