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    Paris, Texas
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Paris, Texas
    Von Carsten Baumgardt

    Die große Zeit des deutschen Autorenfilms lief Ende der 70er Jahre aus. Während sich Rainer Werner Fassbinder 1982 per Überdosis Kokain aus dem Leben verabschiedete und Werner Herzog sich im selben Jahr mit seinem Gigantismus-Epos „Fitzcarraldo“ dem großen internationalen Kino zuwand, sorgte Weggefährte Wim Wenders 1984 dafür, dass der Neue Deutsche Film seine letzte große Vorstellung bekommen sollte. In das schwermütig-melancholische Road-Movie-Drama „Paris, Texas” packte Wenders seine Wehmut nach „seinem Amerika” und schafft damit einen Film von überwältigender Bildsprache. Ein zutiefst sprödes, begeisterndes Meisterwerk für Liebhaber des Autorenfilms.

    „Dies ist wahrscheinlich das außergewöhnlichste Werk europäischer Filmkunst, das je in Amerika realisiert wurde.“ Dieter Kosslick, Berlinale-Festival-Chef.

    Ein halb verdursteter Mann (Harry Dean Stanton) irrt orientierungslos durch die texanische Wüste. Er hat scheinbar die Sprache verloren und wird von einem Provinz-Doc (Bernhard Wicki) in Devil’s Graveyard notdürftig und eher widerwillig betreut. Der Arzt alarmiert Travis’, so heißt der Fremde, Bruder Walt (Dean Stockwell), der aus dem fernen Los Angeles anreist, um seinen tot geglaubten Verwandten abzuholen. Auf dem Weg zurück findet Travis seine Sprache wieder. Walt und seine Frau Anne (Autore Clément) haben Travis’ mittlerweile siebenjährigen Sohn Hunter (Hunter Carson) aufgenommen und sind als Ersatzeltern eingesprungen. In Los Angeles angekommen, will sich Travis seinem Sohn emotional nähern. Und es gelingt ihm tatsächlich, eine Verbindung herzustellen. Beide begeben sich auf die Suche nach Jane (Nastassja Kinski), Travis’ Ex-Frau und Hunters Mutter...

    Der Neue Deutsche Film ist tot. Die Grabrede hielt Wim Wenders. Allerdings ist sein „Paris, Texas“ kein Abgesang, sondern eine phantastische Hommage an die glorreichen Zeiten. Amerika-Kenner Wenders bebildert den Mythos Amerika mit den Mitteln des europäischen Autorenkinos. Mit Schauspieler, Schriftsteller, Regisseur und Drehbuchautor Sam Shepard, der das Skript zu „Paris, Texas“ schrieb, wollte Wenders eigentlich schon in „Hammett“ (1982) zusammenarbeiten. Das scheiterte jedoch am Veto der Produzenten. Und so entstand das Projekt „Paris, Texas“.

    Die Faszination dieses Films beginnt schon mit der Exposition. Wohin die Geschichte führt, ist nicht ansatzweise zu erahnen. Was Travis vor vier Jahren wiederfahren ist, kristallisiert sich zwar schnell als Kern und Ursache sämtlicher Verhaltensweisen heraus, aber worum es damals ging, bleibt lange in einem Nebel von unterdrückten Emotionen, die erst am Schluss in einer anrührenden Szene zwischen Harry Dean Stanton und Nastassja Kinski vollends zum Vorschein kommen. Allein diese Einstellung, in der Travis seine geschundene Seele entblößt, ist das Eintrittsgeld wert. Stanton, Kinski und auch Dean Stockwell liefern außergewöhnliche Leistungen. Stanton bleibt lange ein Mysterium, das er mit den ganz kleinen Gesten famos auf die Leinwand bringt. Die innere Zerrissenheit zwischen desaströser Vergangenheit, unsicherer Gegenwart und völlig ungewisser Zukunft transportiert Stanton meisterhaft. Kinski, die erst spät im Film auftaucht, liefert den perfekten Grund für Travis’ Verhalten. Die Tochter von Klaus Kinski bringt die tiefe Traurigkeit ihres Charakters mit Bravour rüber. Dean Stockwell dient als Travis’ Bruder Walt als Bindeglied zwischen allen Figuren. Ergänzt wird das Spiel des Trios durch den kleinen Hunter Carson, der mit einer erstaunlichen Reife überzeugt.

    Wenders geht es in „Paris, Texas“ nicht nur um das Schicksal seiner Protagonisten, sondern er setzt seine Geschichte in ein universelles Bild über den amerikanischen Südwesten. Mit Hilfe von Kameramann Robby Müller und des grandiosen Gitarrenscores von Ry Cooder (das Hauptmotiv ist eine Variation von Blind Willie Johnsons „Dark was the night“, 1927) zaubert Wenders Einstellungen von atemberaubender, spröder Schönheit auf die Leinwand. Diese herausragende Bildsprache zeichnet den Regiestil des gebürtigen Düsseldorfers besonders aus. „Paris, Texas“ liefert magische, melancholische Bilder. Bestechend ist auch das Farbkonzept, das Werner Herzog ebenfalls brillant in ähnlicher Form in seinem Meisterwerk „Stroszek“ (1977) anwandte. Rot ist die Schlüsselfarbe des Films. Travis’ rote Mütze, sein rotes Hemd, das rote Hemd von Hunter, das rote Auto von Mutter Jane, ihr roter Pulli, ihre roten Lippen. Dieses stets extrem kontrastreich eingesetzte Rot steht für die Liebe, die Travis empfindet. Doch er weiß, dass es dafür keine Erfüllung geben kann und so treten sich Mutter und Sohn im Finale in Grün gegenüber. Die Farbe der Hoffnung. Denn die Hoffnung ist das einzige, was Travis noch bleibt und überhaupt am Leben hält. Die sorgsame Verarbeitung dieser Metapher ist ein Sinnbild für die meisterhafte atmosphärische Dichte von „Paris, Texas“. Der Film lebt von Stimmungen, die mit einer unglaublichen, unterschwelligen emotionalen Intensität auf den Betrachter einprasseln.

    Wenders’ Geniestreich fand international die Anerkennung, die er verdient hat. „Paris, Texas“ wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet – darunter die renommierte Goldene Palme von Cannes. Wenders und Shepard erzählen eine zeitlose Geschichte in einem ebenso zeitlosen Meisterwerk aus einer Epoche, in welcher der deutsche Film international noch etwas wert war. Denn eines ist klar: Diesen phantastischen Bildern kann nicht einmal der Zahn der Zeit etwas anhaben.

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